: Der mit dem Kinn
■ ReadMe: Vom erfolglosen Pausenclown bei McDonald's zum King of Late Night. Der amerikanische Talkmaster Jay Leno läßt die erste Lebenshälfte Revue passieren
Der Schotte Ian Stewart, Gründungsmitglied der Rolling Stones, flog bekanntlich aus der Band, weil er mit seinem riesigen Kinn nicht hip genug aussah. Schade, daß der 1985 gestorbene Pianist nicht mehr erleben durfte, wie ein halber Landsmann, vom lieben Gott mit einem mindestens ebenso mächtigen Unterkiefer ausgestattet, es im Showbusiness zu Ruhm und Ehre gebracht hat: der TV-Star Jay Leno, Sohn einer Schottin und eines Italieners, ist in den USA derzeit der beliebteste Talkmaster der Bildschirm-Spätschicht.
Seine NBC-„Tonight“-Show wird seit einigen Jahren – wegen der Zeitdifferenz mit eintägiger Verspätung – auch in deutsche TV- Kabelnetze eingespeist und erfreut sich dort wachsender Beliebtheit. Wer amerikanisches Entertainment versteht und mag, gibt dem liebenswürdigen und verschmitzten Leno den Vorzug vor den zahllosen Versuchskomikern auf unserem Fernseh-Schlachtfeld, wo das Gebrüll oft die Pointe und die Attacke das Augenzwinkern ersetzt.
Zwar wird der alte Woody-Allen-Spruch „Lieber einen Freund verlieren als einen Gag“ auch von Jay Leno beherzigt, in seinen gesammelten Lebens- und Berufserfahrungen aber geht der 46jährige Leno recht liebevoll mit Familienmitgliedern, Kameraden, Wegbereitern und Kollegen um. Nur sich selbst nimmt er ironisch auf die Schippe, wie schon der Titel der (mit Hilfe eines Esquire-Redakteurs niedergeschriebenen) vorgezogenen Memoiren beweist: „Leading With My Chin“, eine Veralberung seines schottischen Kinns, welches ihm ein freundlicher Arzt schon mal wegoperieren wollte. Andernfalls, so der besorgte Mediziner in falscher Einschätzung des späteren Markenzeichens, werde es wohl nichts mit der Fernsehkarriere.
Es ist nur das kleine, durchaus korrekte Wörtchen „leading“ in dem Buchtitel, mit dem Jay Leno einen alten Freund ins Mark getroffen haben dürfte: David Letterman, auf dem Konkurrenz-Network CBS jahrelang unangefochtener Spitzenreiter bei den Einschaltquoten im Genre „Late Night“ (um acht Millionen Zuschauer pro Sendung), mußte vor gut einem Jahr die Führung an Leno abgeben, als der den bei einem Seiten-Fellatio mit einer Prostituierten ertappten britischen Schauspieler Hugh Grant zu Gast in der Sendung hatte. Seitdem hält Letterman, einst wie ein großer Bruder Lenos Förderer, nur noch den zweiten Platz – was neue Werbekunden zu NBC treibt und den ohnehin hochgradig neurotischen CBS-Mann immer nervöser und damit schlechter macht. So brach kürzlich die Schauspielerin Cindy Crawford in ihrer Garderobe in Tränen aus, weil Letterman sie beleidigt hatte.
Leno kostet den Triumph in seinem höchst amüsanten und lehrreichen Buch allerdings nicht weiter aus, erwähnt ihn nicht einmal, so daß die Freundschaft zu Letterman nicht unwiederbringlich dahin sein muß. Denn letztlich ist Woody Allens Slogan auch wieder nur ein Gag – jedenfalls in der kleinen Elite der „Stand Up Comediens“ und der „Gagwriter“ aus den „Comedy Shows“. Wie dieses Völkchen trotz gelegentlich untereinander ausgeteilter Fußtritte wie Pech und Schwefel zusammenhält, weiß Leno herzerwärmend zu erzählen.
Es mag daran liegen, daß sie deshalb Respekt voreinander haben, weil sie alle durch die gleiche, harte Schule gegangen sind: das Leben selbst in seiner reinen Form. Leno, Sohn eines Versicherungsvertreters und weder als Schüler noch als Collegestudent eine Leuchte, hat zu Hause in Boston bei McDonald's bunte Abende gestaltet, in den Bohemekneipen von Greenwich Village ein paar unpolitische Scherze zwischen die Protestsongs der Vietnamkriegsgegner gestreut und in „Playboy“-Klubs und Stripteaseläden verzweifelt versucht, lüsternen Geschäftsreisenden zwischendurch mal ein Lachen zu entlocken. Er hat manchmal selbst Geld hinblättern müssen, um Aufträge zu ergattern, ist von Gangstern wie von Gymnasiasten niedergeschrien oder sogar von der Bühne gescheucht worden, wenn seine Sprüche nicht ankamen – was, wie er in entwaffnender Ehrlichkeit berichtet, oft genug der Fall war.
Heute lebt er mit seiner Frau in einer Villa in Beverly Hills, kann sich das Hobby leisten, alte Autos und Motorräder zu sammeln und zu fahren. Wenn Kinostars wie Jack Lemmon ihm zuwinken, freut er sich immer noch wie ein Schuljunge. Wer so weit kommt, versteht sich nicht nur als witzeerzählender Moderator. Für einen wie Leno, der sich selbst nicht ernst nimmt, ist „Comedy“ eine ernstzunehmende Disziplin auf dem weiten Feld der Unterhaltung. Bei uns ist sie noch kaum mehr als eine Attitüde, die sich ernster nimmt als den Zuschauer. Das ist der Unterschied. Andreas Odenwald
Jay Leno: „Leading With My Chin“, HarperCollins, New York, 276 S., 22 Dollar
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