piwik no script img

Eine politische Aufgabe

■ betr.: „Normales Procedere“, taz vom 15. 11. 96

Zu Recht fordern Kritiker der jüngsten Entscheidung des Bundesverfassungsgerichtes (BVG) eine politisch-moralische statt einer juristisch-strafrechtlichen Aufarbeitung des „DDR-Unrechts“ unter Einbeziehung der historischen Gegebenheiten des Kalten Krieges. Aber aus eben diesem Grund ist das BVG die falsche Adresse für die Vorwürfe, die an die politische Kaste in Bonn gerichtet sein müßten. Statt politischen Weitblicks regiert dort im Parlament ein kurzsichtiger Kleingeist. Statt politisch zu handeln erweisen sich die großen Parteien aus den unterschiedlichsten Eigen- und Machterhaltungsinteressen gegenüber einer der wichtigsten Herausforderungen der Einheit als handlungsunfähig. Hinzu kommt, daß der Sieg über die DDR in Bonn – und nicht nur dort – „zu einer moralischen Überhöhung der westlichen politischen Einrichtungen vom Relativen bis ins Absolute geführt“ hat, wie Günter Gaus in der BZ (9./10. 11. 96) so treffend vermerkte. Sich der Herausforderung und der Verantwortung entziehend, überlassen die Politiker die Aufarbeitung der anstehenden Probleme den Mechanismen der Justiz, denen diese jedoch im wahrsten Sinne des Wortes nicht gerecht werden kann.

[...] Die Tatsache, daß durch den Entscheid der Rechtsgrundsatz des Rückwirkungsverbots für ehemalige DDR-Bürger aufgehoben wurde, ist sicherlich sehr bedenklich, und auf die Reaktionen aus internationalen Fachkreisen dürfen wir gespannt sein. Allerdings sollte es uns auch bewußt sein, daß der BVG-Entscheid nichts anderes als der Ausfluß des Rechtsempfindens eines Großteils der Bevölkerung der Alt-Bundesrepublik ist, in der Jahrzehnte antikommunistischer Indoktrination nachwirken. So erklärt sich auch, daß die Reaktion auf den BVG-Entscheid bei der Bevölkerung der neuen Bundesländer, den eigentlich direkt betroffenen ehemaligen DDR- Bürgern, viel zwiespältiger als im Westen ist; und das nicht nur bei PDS-Anhängern.

Ost und West bleiben in zwei Gesellschaften gespalten. Unter der Oberfläche verlaufen Trends, die zu den vollmundigen Einheitsbeschwörungsformeln aus Bonn gegenläufig sind. Dies zu korrigieren, kann nicht Aufgabe des BVG sein. [...] Es ist und bleibt eine rein politische Aufgabe, nach dem Vollzug der formellen Einheit auch die Weichen endlich für eine gesellschaftliche Einheit zu stellen und nicht länger auf Ausgrenzung zu setzen und auf die „biologische“ Lösung vieler Probleme zu hoffen. [...] Rainer Rupp, Saarbrücken.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen