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„Lange Beine = Reiselust“

■ Nach Wilma Castrian verraten die Körpermerkmale den Charakter

“Leute mit runden Nasen essen gern, die mit spitzen Nasen essen nicht gern.“ Der Charakter ist dem Menschen buchstäblich ins Gesicht geschrieben – das meint jedenfalls die selbsternannte Psycho-Physiognomikerin Wilma Castrian. Was die einzelnen Körperteile verraten, erläuterte sie jetzt in einem Vortrag im Presseclub vor über vierzig Zushörern , darunter viele Frauen mittleren Alters.

„Lange Beine zeigen Reiselust und Bewegungsdrang“, ist sich Wilma Castrian sicher. Der Beweis: Zwei langbeinigen Frauen aus dem Publikum. Sie verraten freimütig, daß sie in ihrer Freizeit gern rudern.

Psycho-Physiognomiker, wie Wilma Castrian, erheben den Anspruch, objektiv sein. Denn: Die subjektive Wahrnehmung der Mitmenschen sei gelegentlich von geradzu fatalen Fehlurteilen bestimmt, so Castrian. Sie hingegen habe den richtigen Riecher: Die Nase zum Beispiel, läßt sich millimetergenau ausmessen und bestimmen. „Die Nase zeigt den Selbstverwirklichungswillen an. Beim Baby ist er nur ein Knöllchen, aber spätestens in der Pubertät ändert sich das dramatisch.“ Die Zuschauer quittierten diese einfache Theorie allerdings mit skeptischen Blicken. „Das sähe ja auch komisch aus, wenn Erwachsene so kleine Näschen hätten“, wehrte sich eine Zuschauerin gegen den scheinbaren Zusammenhang. „Babies wollen erstmal eins: Trinken. Da stört eine große Nase doch nur“, ging eine andere Teilnehmerin das Problem von der praktischen Seite an.

Wilma Castrian ließ sich nicht beirren und berief sich auf Carl Huter, der die Psycho-Physiognomik im 19. Jahrhundert erforscht habe. Näheres verriet die Psycho-Physiognomikerin über ihren wissenschaftlichen Ahnherrn allerdings nicht. Ein Fachmann aus Bremen, Gerhard Vinnai, Professor für analytische Sozialpsychologie an der Uni Bremen, hält den einfach hergestellten Zusammenhang zwichen Körperform und Charakter hingegen für reine Spekulation. „Die Forschungserbnisse des 19. Jahrhunderts halten modernen wissenschaftlichen Methoden nicht stand. Die Zusammenhänge zwischen äußerer Form und Charakter sind viel komplizierter als damals angenommen“, sagt er. Außerdem sei Psycho-Physiognomik statistisch leicht zu widerlegen. „Ich halte das sogar für sehr gefährlich, weil sie die Leute ungeheuer festlegt.“ Außerdem werte man bei der Zuordnung von Eigenschaften sehr leicht.

Tatsächlich ist man sich in der physiognomischen Forschung uneins, was die Nase zu bedeuten hat. Im Gegensatz zu Castrian sprach Fritz Lange in seiner „Sprache des menschlichen Antlitzes“ 1952 der Nase ihre besondere Ausdruckskraft ab. „Allein ein Neger kann trotz seiner Stupsnase ebenso tapfer und kühn sein. Und deshalb darf man auch von der Nasenform keine physiognomischen Aufschlüsse erwarten.“ Wilma Castrian hingegen bestand darauf: „Die großnasigen Europäer haben einen ausgeprägten Individualitätsdrang, während die stupsnasigen Asiaten gruppenorientiert leben“, lautete ihr Abstecher in die Theorie von der „Mentalität der Rassen“. Zur nationalsozialistischen Rassentheorie sei es da nur ein kleiner Schritt, findet Gerhard Vinnai. Die Nase des Juden oder die spezielle Kopfform eines „stammesechten Zigeuners“ verriet damals angeblich deren asoziales und kriminelles Wesen. „Theorien wie die Psycho-Physignomie sind sehr populär“, sagt Professor Vinnai. „Sie bringen Ordnung in eine Welt, die als bedrohlich empfunden wird. Der Angst vor anderen Leuten wird mit einfachen Festlegungen begegnet. Damit meint man, sie auf den ersten Blick zu kennen.“

Übrigens: Wilma Castrian paßt in die Kategorie: „kurzbeinige Vielrednerin“. Während lange Beine für Reiselust stehen, müßten kurze Beine – der Castrianischen Theorie – auf Häuslichkeit hindeuten. Sie blieb wie angewurzelt in der Mitte des Raumes stehen und redete in dozierendem Tonfall. Ihre Nase war eher klein. Ob das vielleicht ein Zeichen von Oberflächlichkeit ist? Roswitha Tröger

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