: Eine ausdrucksstarke Kälte
Minus 35 Grad, drei Meter Schnee, fünf Monate Winter: C'est le fun. Fahren mit Hundeschlitten und auf Schneemobilen, Laufen auf Schneeschuhen und Angeln im Eis. Weiße Szenen in der kanadischen Provinz Québec ■ Von Günter Ermlich
„Allez, allez!“ rufe ich in die québecische Kälte, nachdem ich den Pflock aus dem verharschten Tiefschnee gezogen habe. Schon kennen die zwei mal zwei Huskies im Gespann kein Halten mehr, hecheln durch die Schneise des Winterwalds. Mit schlotternden Knien balanciere ich breitbeinig auf den schmalen Kufen des Schlittens. Krampfhaft halte ich mich an der Rückenlehne fest. Mit der Fußbremse versuche ich den Bewegungsdrang meiner vier Renntiere etwas zu zügeln. Vergeblich. Gleich in der ersten Rechtskurve, bergabwärts, rutsche ich von den Kufen ab, knalle mit dem Brustkorb auf die eiserne Rückenlehne – und lande bäuchlings im Schnee. Nicht weit weg eine mächtige Fichte. Ich klammere mich an den seitwärts umgekippten Schlitten, um die weiter vorwärtsdrängenden Hunde zu stoppen. Der Zwischenfall produziert einen kleinen Stau der nachfolgenden Hundegespanne. Schlitten aufrichten, tief durchatmen, Angstschweiß wegwischen und: Allez! Das Vierergespann mit Steuermann dreht eine unfallfreie Runde über die Weite des zugefrorenen Sees.
„Ja, die Kunden müssen schon ein bißchen sportlich sein“, weiß der Herr der Hunde, François Beiger, und führt uns an den Zwingern entlang mit Namen und Geburtsjahrgängen (Hündin „Greta 92“, Rüde „Garbo 92“) in sein Holzhaus. Auf dem Kaminsims posieren zwei Porzellanhuskies, dahinter ein gerahmtes Großfoto mit François knieend inmitten seiner Hundeschar. Der 51jährige Elsässer, im markigen Outdoor-Dress „kann nicht mehr ohne Schlittenhunde leben“. François ist einer der glücklichen Menschenkinder, die sich ihren Kindheitstraum erfüllt haben. Mit acht Jahren schon zog es ihn zu den Huskies, mit 33 kaufte er sich die ersten vier, zunächst als Hobby, begann sie zu züchten und fuhr erste Rennen in der Schweiz und Frankreich. Damals war er noch erfolgreicher Modedesigner mit wallendem Haar, der 16 Stunden pro Tag schuftete. Vor fünf Jahren hat er den Laufsteg mit der Schneepiste vertauscht und ist mit „elf Huskies, zwei Schlitten, zwei großen Säcken und 920 Dollar in der Tasche“ in Québec angekommen.
Was kann man hier mit Touristen machen? François fragte Trapper und Inuits, inspizierte Pisten und machte erste Husky-Expeditionen für Gruppen im eisigen Norden Québecs. Vor zwei Jahren kaufte sich der Natur-Seiteneinsteiger hier in Entrelacs, nur 45 Minuten vom Flughafen Montreals entfernt, 30 Quadratkilometer Land und setzte sein touristisches Produkt darauf: ein Informationszentrum „Natur und Schlittenhunde“ mit Aufzuchtstation, kleinem Museum über die Inuit und ihre Husky-Tradition und drei verschieden langen und schweren Schlittenhunde-Pisten. „Es läuft ganz gut“, sagt beim Abschied der alleinlebende Hundenarr. „Viele Frauen lieben meine Hunde.“
Die Hundeschlittenfahrt ist sicher eine Variante des sanften Tourismus. Dagegen ist das Schneemobil (motoneige) knüppelhart für umweltsensible Gemüter. Ein motorisierter Schneeschlitten mit zwei lenkbaren Kurzskiern drunter, snowmobiling heißt die sportlich-rasante Bewegungsart.
„Pourvoirie du Lac Blanc“ ist eine Winteroase mit zwölf komfortablen Chalets. Anprobe in der Verleihstation: Gesichtsmaske mit Sehschlitz, Sturzhelm mit Klappvisier, Mundschnorchel, Moonboots, dick wattierte Jacken wie Hosen XXXXXL. In meiner aufgeblasenen Montur komme ich mir vor wie eine Mischung aus Mondmensch, Motorradfahrer und Tiefseetaucher. Ich zeige meinen Auto-Führerschein, schließe die obligatorische Haftpflichtversicherung ab, bekomme ein Schneemobil bereitgestellt und vom Mechaniker elementare Handgriffe (anlassen, beschleunigen, bremsen) beigebracht. Schon nach wenigen Kilometern manövriere ich meinen knallroten, 6.000 Dollar teuren Schlitten routiniert durch die Kurven des präparierten Waldtrails. Die Strecke ist gut beschildert, es gelten die normalen Verkehrsregeln, immer schön rechts bleiben wegen des Gegenverkehrs. Zusammenstöße und schmerzhafte Stürze sind durchaus an der Tagesordnung. Und wenn man so ein 300 Kilo schweres Gerät erst mal in den Graben gesetzt hat, bekommt man es allein nur schwer wieder heraus. Während der Kopf mir noch „Das darfst du doch im Ernst nicht gut finden!“ einhämmert, juchzt der Bauch schon lange: „Absolut geil!“. Ein brutales Vergnügen, Gestank und Lärm in perfekter Harmonie. Volle Konzentration voraus, 60 km/h bis zur nächsten Kurve. Der idyllische Winterwald wird zum flüchtigen Transitraum, zur eingetrübten Winteroase.
Ist das Wintergetüm nicht schädlich für die Umwelt? Die Leute vor Ort verstehen meine Frage nicht. „Davon haben wir in Kanada doch genug“, lachen sie selbstbewußt. Und die touristischen „It's snowmobliss“-Broschüre versichert: Schneemobilisten würden die Tierwelt weniger stören als Ski- und Schneeschuhläufer.
120.000 Québecer besitzen ein Schneemobil, das hier nur Ski-Doo genannt wird, nach dem Markennamen seines Erfinders, des einheimischen Ingenieurs Joseph-Armand Bombardier. Die Inuit benutzen den Motorschlitten zum Jagen, Hausfrauen fahren damit zum Einkaufen. Für manche in den entlegensten Regionen ein lebensnotwendiger Auto-Ersatz. Und was die Autobahnen bei uns, sind die Schneemobilpisten in Québec: ein vernetzes Verkehrspistensystem von über 25.000 Kilometer Länge, von den Mitgliedern der 263 Clubs tiefschneegeräumt und unterhalten, ausgestattet mit Hunderten von Verleihstationen, Tankstellen und Reparaturwerkstätten. Wer Spaß daran findet, kann von Lodge zu Lodge knattern, 100 oder auch 200 Kilometer am Tag, mitten durch die kanadische Wildnis. Für etwa 125 Mark pro Tag.
Vom 26. Dezember bis zum 15. Februar ist jedes Jahr Holiday on Ice in Sainte Anne de la Pérade. Dann verwandelt sich das Dorf nahe des St.-Lorenz-Stroms in eine Eisangler-Kapitale, in die alljährlich 100.000 Sportsfreunde strömen. Und nur wegen des petit poisson des chenaux. Denn diese kleine Kabeljauart hat das Flüßchen Sainte Anne als Laichplatz auserkoren und schwärmt zu Abermillionen hierher, vom fernen Atlantik durch den St.-Lorenz-Strom.
Auf dem Pferdeschlitten kutschieren wir in der Nachmittagsdämmerung durch das provisorische Hüttendorf, das Outfitter (Ausrüster) direkt auf den zugefrorenen Fluß gebaut haben. Das Eis ist haltbar, 60 Zentimeter dick. Gut 500 kleine Holzhäuser schmiegen sich darauf eng aneinander. Dazwischen mischen sich Restaurants, Imbißbuden und bunt angestrichene, geheizte Toiletten. Strommasten und -leitungen komplettieren die Infrastruktur, die sieben Wochen Bestand hat. Vor einigen Hütten parken sogar Autos.
Unsere Hütte ist mollig warm. Wir sitzen auf einer langen Holzbank. Von der Decke hängen 20 Strippen senkrecht herunter und verschwinden in der Eisrinne vor unseren Füßen. „Ça mord!“ (er beißt an) stößt mich Guy-Paul Brouillette, der Präsident der Anglervereinigung, leicht in die Rippen. Mit einem Ruck ziehe ich den Faden aus dem Eisloch und habe einen 25 Zentimeter großen zappelnden Minikabeljau am Haken. Brouillette hilft mir, ihn vom Haken abzuziehen und wirft ihn draußen vor die Tür in den natürlichen Eisschrank, auf den Leichenberg der Artgenossen. Eisangeln ist kinderleicht, man braucht nie lange zu warten, das Glück am Haken ist garantiert.
Als Köder spießt der Präsident Häppchen von Schweineleber und Garnelen auf den Haken. „Ein sehr kapriziöser Fisch“, erklärt er nickend. Aber auch ein sehr gefräßiger. Letztes Wochenende hätten zwei Jungs in zwei Stunden 200 Fische herausgeholt. Wobei aber nur drei Prozent der 500 bis 900 Millionen Fische, die in guten Jahren unterm Eis schwimmen, gefangen würden. Und für Nachschub ist stets gesorgt, denn ein Durchschnittsweibchen lege 8.600 Eier, ein Superfruchtbares bis zu 46.000. „Probieren Sie!“ Zur Verkostung bringt Madame einen Teller mit frisch frittierten Fischlein. Zwei reichen mir.
Eine ausdrucksstarke Kälte. Minus 35 Grad können Spaß machen. Ich watschele durch metertiefen Schnee. Unter die Bergstiefel sind Schneeschuhe geschnallt, die in Form und Bespannung wie übergroße Tennisschläger wirken. Linkes Beinchen hoch, aufpassen, rechtes Beinchen hoch. Immer behutsam und breitbeinig voranschreiten. Wie Trapper das von den Indianern Nordamerikas erfundene Schneeschuhlaufen über 30 Kilometer und mehr praktizieren können, bleibt mir ähnlich unfaßbar wie der Ironman-Triathlon.
Querfeldein stapfen wir den Hang hinunter, um die bizarre Eiszapfenformation am Wasserfall in Augenschein zu nehmen. Mark Mills watschelt sportlich voran. Der 35jährige aus Toronto ist einer von sieben naturalistes (Parkerklärern) des 550 Quadratkilometer großen Mauricie-Nationalparks. Die knapp milliardenalte, gerundete Fels-, Wald- und Seenlandschaft ist charakteristisch für die Laurentiden, dem südlichen Ausläufer des Kanadischen Schildes. Am besten erfährt man den Park mit seinen 150 Seen im Kanu, und jetzt im Winter – nichts gegen Schneeschuhe! – auf Langlaufskiern.
Ab 1850 „entdeckten“ Holzfäller das unberührte Gebiet und fällten die mächtigen Kiefern, dem Schiffbau und der gefräßigen Papierindustrie zum Nutzen. Um die Ausbeutung der Ressourcen zu stoppen, verpachtete die Provinzregierung das aufgeteilte Gebiet 30 Jahre später an private Jagd- und Angelklubs. So auch an den feinen Laurentian Club, dessen Mitglieder meist ultrareiche US-Amerikaner waren wie die Kennedy-Family, die inklusive des kleinen John F. hier oft zu fischen pflegte. Ein kleines Dorf mit kompletter Infrastruktur und 250 meist indianischen Angestellten. Nur zwei Lodges sind erhalten geblieben, die heute als Aufenthalts- und Schlafstätten für Parkbesucher dienen. 1970 wurde das Terrain zum Nationalpark erklärt. Zum Wohl des Elchs, der sich von damals 35 Exemplaren auf heute über 300 vermehren konnte.
Fünf Monate Winter, Temperaturen bis 50 Grad Minus, drei Meter Schneefall im Schnitt pro Jahr, der größte Winterkarneval weltweit. „Mon pays ce n'est pas un pays c'est l'hiver“ (Meine Heimat ist nicht ein Land, meine Heimat ist der Winter) heißt es in dem Chanson des Québecer Urgesteins Gilles Vigneault. Und der bietet Abenteuer, Freiheit, weiße Weiten. Wie im Kino – aber echt!
Infos: Destination Québec, Vautierstraße 92, 40235 Düsseldorf, Tel.: 0211/914260, Fax: 0211/9142614
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