Im Unguten steckengeblieben

■ betr.: „Nicht nur zur Weihnachts zeit“ von Nadja Klinger, taz vom 4. 12. 96

Wir wollten soviel, sagen unsere PolitikerInnen. Etwas Neues für die Armen und Kranken! Mehr Gerechtigkeit für die pflegenden Frauen zu Hause. Mehr Arbeitsplätze für die Frauen in den Pflegeberufen in Alten- und Pflegeheimen. Die Zeit schien reif für mehr Anerkennung von typisch weiblichen Tätigkeiten wie Zuwendung und tätige Nähe zum Mitmenschen. Einerseits durch mehr Entlohnung, andererseits durch mehr Rentenansprüche für Familienarbeit. Lückenlos sollten unsere Großmütter und Großväter und natürlich die unserer Politiker auch versorgt werden.

Unsere immer auf Leistung bedachten Volksvertreter haben sich mächtig ins Zeug gelegt, um das Gute zu schaffen. Doch sie sind im Unguten steckengeblieben. Es ist noch weniger bei aller Mühsal herausgekommen. [...]

Jetzt müssen die, die ganz wenig verdienen, auch noch für die, die ganz viel verdienen, mit in die Pflegekassen einzahlen. Umverteilung von unten nach oben könnte man das nennen. Umverteilung von Pflegearbeitsplätzen aus den Alten- und Pflegeheimen in die Warteräume der Arbeitsämter könnte man es auch nennen. Denn die Zweite Stufe der Pflegeversicherung wird von denen, die damit umgehen müssen, mißverstanden. Mehr Pflegestufen heißt weniger Personal für unsere Großmutti, denken sie. Und wissen gleichzeitig, wieder eine Politik auf dem Rücken der Frauen. Dabei erlaubt der unglaubliche Überschuß in den Pflegekassen endlich auch genügend Personal in den Heimen. Laßt uns doch endlich die mörderische Pflegelast von den Rücken unserer Altenpflegerinnen nehmen; oder haben Sie, Herr Blüm, schon einmal allein eine 85 Kilogramm schwere alte Person aus dem Bett gehoben? Haben wir denn umsonst auf die Pflegeversicherung gehofft, um eine Pflegekastastrophe erleben zu müssen?

Die neue Pflegeversicherung vernachlässigt unsere alten Großeltern. Riesige Personallöcher tun sich in den Pflegestationen neuerdings auf. Die Alten träumen schon, daß sie in einer Isolierzelle aufwachen, wo dreimal täglich ein Essen hereingereicht wird. Die PflegerInnen sind schockiert von der Vision, nur noch einer Wach- und Schließgesellschaft anzugehören.

Umverteilung der schwer erkämpften Frauenarbeitsplätze von der freien Wirtschaft ins häusliche Wohnzimmer könnte man es auch nennen.

Das soziale Netz hat sich plötzlich in ein Fangnetz für unsere pflegenden Frauen verwandelt. Sie sollen jetzt auch noch hochqualifizierte psychische und physische Schwerstarbeit für'n Appel und 'n Ei machen. Doch meistens bekommen sie nur einen Apfelstrunk und Eierschale, wenn die GutachterInnen von der Pflegeversicherung Stufe Null sagen. Doch die wahren Nullen haben sich gedankenlos die Kriterien der Pflegeversicherung ausgedacht. Und auch noch angeordnet, daß die Anzahl der Pflegebedürftigen sich gefälligst nach der Zahl der Krankenstatistik zu richten hat. Und die GutachterInnen müssen auch den Zahlen gehorchen, sonst werden auch ihre Beurteilungen umverteilt in den Papierkorb oder womöglich sie selber per Freiberuflervertrag ins Arbeitsamt.

[...] Zusammengenommen: Die Pflegeversicherung ist gleichzeitig gut zum Unterbinden von Haushaltslöchern und menschenwürdiger Pflege, und die Frauen müssen schon wieder ihren Rücken hinhalten. Erstens werden die Frauen aus den gutbezahlten Jobs umverteilt in die Pflege mit mickrigen Rentenansprüchen, zweitens werden sie durch diese Schwerstarbeit selber bald zu Pflegefällen, und drittens werden die alten Frauen (auch Männer natürlich) in Pflegeheime gesteckt, damit man sich nicht mehr um sie (vernünftig) kümmern kann und muß.

Gesellschaftlicher Werdegang: Früher verkauften wir die Braut, heute unsere Großmutter. Wünschenswert: Gebt den Pflegeversicherten, was der Pflegeversicherten ist. Thomas Dauskardt,

Krankenpfleger, Bönningstedt