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Ein Fan aus Thüringen

■ Berufung im Seles-Prozeß begann: Das Opfer kam nicht, schrieb aber einen Brief Von Lisa Schönemann

„Er hat mein Leben zerstört“: So heißt es in einem Brief der ehemaligen Spitzentennisspielerin Monica Seles. Ihr Anwalt verlas ihn gestern in der Berufungsverhandlung um das Messer-Attentat auf dem Center Court am Rothenbaum am 30. April 1993. Dieser Brief mit Datum von Montag ist seit langem ihre erste Äußerung zu den Geschehnissen. Monica Seles, die zum Prozeß nicht nach Hamburg kam, hat nach der Stichverletzung an keinem Turnier mehr teilgenommen. Die letzten zwei Jahre, so Seles, „waren die Hölle für mich“.

Der Angeklagte Günter Parche habe sie beim Training beobachtet und angelächelt, schreibt Monica Seles weiter. Sie könne bis heute nicht verstehen, warum er später zugestochen habe. Nach dem ersten Stich habe er das Messer ein zweites Mal gegen sie erhoben, sie habe aber fliehen können.

Ihr Anwalt Gerhard Strate will beweisen, daß Parche den Tod der Rivalin seines Idols Steffi Graf billigend in Kauf genommen habe. Gericht und Staatsanwaltschaft haben bisher keine Anhaltspunkte dafür gehabt, den gelernten Dreher eines versuchten Tötungsdelikts zu beschuldigen. Der damals 39jährige war im Oktober 1993 in erster Instanz wegen gefährlicher Körperverletzung zu einer Bewährungsstrafe von zwei Jahren verurteilt worden.

„Ich würde für sie durchs Feuer gehen“, sagte der glühende Graf-Fan gestern zum Prozeßauftakt. Seine „Liebe und Verehrung“ für sein „Traumgeschöpf“ sei noch immer „grenzenlos“. Der unscheinbare Mann auf der Anklagebank, der dem Verfahren nur mühsam folgen konnte, beteuerte wiederholt, er habe Monica Seles nur oberflächlich verletzen wollen. Sie sollte für eine Weile vom internationalen Tennisgeschehen ferngehalten werden, bis Steffi Graf den Platz eins der Weltrangliste zurückerobert hätte. Seine Briefe an die Tennisgröße aus Brühl, seinen „lieben Schatz“, hatte er stets anonym mit „ein Fan aus Thüringen“ unterschrieben.

Ein Unfallchirurg des UKE sagte gestern aus, daß die eigentliche Stichverletzung weniger gravierend, Seles' Angst vor weiteren Angriffen damals jedoch sehr groß gewesen sei. „Sie war für mich ersichtlich an ihrem Lebensnerv getroffen“, so der Arzt. Was tatsächlich am Rothenbaum geschah, soll am Donnerstag mit Hilfe zahlreicher Zeugen festgestellt werden. Der Prozeß wird fortgesetzt.

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