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Der Glückliche schlägt dem Faß keinen Boden aus Von Ralf Sotscheck

Nun werde ich mir doch eine Uhr kaufen müssen. Zwar bin ich bisher sehr gut ohne ausgekommen, aber neulich wurde mir klar, daß es manchmal nicht ratsam ist, jemanden nach der Uhrzeit zu fragen. Im Pub kurz vor der Sperrstunde zum Beispiel. Da in Dublins Kneipen die Zapfhähne um elf Uhr abends versiegen, darf man den Zeitpunkt für die letzte Bestellung nicht verpassen, will man nicht auf dem Trockenen sitzen.

Diesmal hatte John sein elektronisches Notizbuch vergessen, das uns in der Vergangenheit schon so manches Mal vor einer Dürre bewahrt hat. Man kann es nämlich so programmieren, daß es kurz vor elf panische Warntöne ausstößt, so daß man noch drei Minuten für den Weg zum Tresen hat. Doch ohne den Last-Order-Piepser waren wir auf die Kooperation wildfremder Trinker angewiesen.

Der erste antwortete auf die Frage nach der Uhrzeit: „Noch Zeit für mindestens zwei Bier.“ Diese vage Angabe nützte uns nichts, da der rotnasige Uhrenbesitzer so aussah, als würde er zwei Pints – das sind jene 0,56-Litergläser, in denen das Bier in Irland daherkommt – in Null Komma nix hinunterstürzen. Der Richtwert für uns gesittete Alkoholkonsumenten liegt freilich weit darunter. Der nächste Beuhrte, der an unserem Tisch vorbeilief, lallte ein banales Sprichwort, das etwa so klang: „Der Glückliche schlägt dem Faß keinen Boden aus.“

Und dann kam Endora vorbei, die so hieß, weil sie Samanthas Mutter in „Verliebt in eine Hexe“, dieser wunderbaren Fernsehserie aus den sechziger Jahren, so ähnlich sah. Endora machte ein solch glückliches Gesicht, als ob sie den ganzen Tag darauf gewartet hatte, daß sie jemand nach der Uhrzeit fragt. Es stellte sich heraus, daß sie in Wirklichkeit schon seit einer Woche darauf gewartet hatte. Denn sie besaß eine neue Uhr, aber keine gewöhnliche. „Du kannst meine Uhr selbst fragen“, rief sie strahlend und hielt mir die Zwiebel dicht ans Ohr. Dann drückte sie einen Knopf, und die Uhr gab ein schnarrendes Geräusch von sich, als ob sie gerade einen Kolbenfresser erlitten hätte. „Nun weißt du es“, behauptete Endora, „fünf vor elf.“ Das sollte die Uhr gesagt haben?

Im nächsten Augenblick flackerte das Licht mehrmals. „Es muß elf sein“, rief ich, „das war die Lichtwarnung für die letzte Bestellung.“ Mitnichten, gab Endora zurück. Die Kneipenuhr müsse vorgehen. Das möge sein, wandte ich ein, aber es sei nun mal das offizielle Zeitmeßgerät, das über Getränk oder Nichtgetränk entscheide. Nichts zu machen: Endora drückte mir die Uhr ans Ohr, bis ich das Schnarren richtig deutete: Jetzt war es eleven o'clock. Bei ihrer Mutter hätte es auch eine Weile gedauert, bis die Verständigungsschwierigkeiten mit der Armbanduhr überwunden waren, tröstete sie mich.

Die 87jährige Mutter hatte vorher eine moderne Uhr mit Digitalanzeige besessen, die sie aber nicht sehen konnte, weil sie blind war. Die Tochter konnte die Uhr zwar sehen, aber nicht lesen, weil sie Legasthenikerin war. Dann stieß sie vor einer Woche auf die sprechende Uhr und kaufte zwei Stück. Und nun drückte Endora noch mal auf den Knopf, damit auch die letzten Hoffnungen auf ein Bier verflogen: „Ten minutes past eleven.“ Aus dem Mund der Uhr klang es fast höhnisch.

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