: Lesegenuß
■ betr.: „Ausschau nach dem Guten“, „Sag die Wahrheit!“, Literataz vom 14./15. 12. 96
Schade, daß Habermas' Ansatz der „Einbeziehung des Anderen“ nicht besser gewürdigt wurde. Denn hier zeigt sich (als Gegenbegriff) die Spitze des Keils, der in unsere vom Bann der Besitzstandsmaximierung gezeichnete Welt zu treiben wäre. Damit eng zusammen hängt die leider nur bespöttelte Wiedergewinnung eines Sinns für Wahrheit. Wahrheit muß ja nicht als einholbare oder fixierbare gedacht werden. Als Inbegriff des Möglichen und Anderen ist sie Grund von Utopie in bestem Sinne. Und nur mit ihrer Kraft wird die Hülle des Gegebenen zu durchstoßen sein. Dies zu erkennen ist kritische Theorie. Wo bleibt sie in der taz? Martin Th. Köhler, Mörlenbach
Die Literataz am Wochenende war mal wieder ein Lesegenuß; der taz und den Autoren sei für die spannenden Anregungen zum Nachdenken gedankt.
Spannend auch die Rezension von Robert Misik über das neue Buch von Jürgen Habermas: Die Solidarität mit anderen, gar mit als fremd empfundenen, ist im Zeitalter zunehmender Individualisierung und der Atomisierung immense Herausforderung und Problem zugleich. Habermas, dem die Schattenseite nationalen Denkens durchaus bewußt ist, stellt fest, daß bei der Entstehung des klassischen europäischen Wohlfahrtsstaats die Idee der Nation von „gesinnungsbildender Kraft“ und nur mit ihrer Hilfe soziale Integration möglich war. Kann heute, fragt er – und wünscht sich dies –, die Idee „Europa“ vergleichbare Solidaritäten und Identitäten ausbilden.
Misik bezweifelt, daß es einen Ersatz „für die imaginäre Größe, die im Sozialstaat die ,Idee der Nation‘ war“, gibt. Der Zweifel ist begründet. Die Kritik hingegen, daß Habermas' Position logisch nicht haltbar sei, da er Voraussetzung und Folge verwechsle, bleibt ihrerseits unklar. Außerdem besteht die Gefahr, die normative Kraft des Europa-Gedankens zu unterschätzen, nur weil in der Europäischen Union vor allem die Grenzen für Güter und Gelder fallen. Die nächste Generation der kritischen Theorie, zum Beispiel Herfried Münkler, bezieht sich viel stärker als Habermas auf die identitätsstiftende Kraft der Idee „Europa“. Daß es dabei um Ein- und Ausgrenzungen geht, ist beiden ebenso bewußt, wie daß der Kapitalismus damit nicht abgeschafft ist. Vielleicht ist es aber doch wichtiger, auf seine Zähmung hinzuarbeiten, als es sich theoretisch in der Position der notwendigen „sozialen Revolution“ bequem zu machen. Matthias Bertsch, Berlin
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