piwik no script img

„Wir kämpfen für Demokratie“

Täglich gehen in Belgrad Zehntausende Studenten auf die Straßen und protestieren gegen Präsident Milošević. Mit Parteien wollen sie jedoch nichts zu tun haben, auch nicht mit oppositionellen  ■ Aus Belgrad Georg Baltissen

„Ich weiß nicht, wie lange das geht, aber wir machen auf jeden Fall weiter.“ Iris (20) ist von kleiner Statur, schlank, hat kurze schwarze Haare, lebhafte dunkle Augen und ein entwaffnendes Lächeln. Gekleidet ist sie in Jeans, einem dicken roten Anorak und einem bunten Schal um den Hals. Es ist kalt in Belgrad und nieselt ein wenig.

Iris studiert Musik und weiß genau, warum sie am „Plato“ steht, dem Platz vor der Philosophischen Fakultät, auf dem sich die Studenten täglich zu ihrer Demonstration einfinden: „Wir wollen die Anerkennung der Kommunalwahlen, den Rücktritt des Rektors und des Vizerektors.“ Letzterer ist ein Student, der die Interessen der Studenten vertreten soll, aber es überhaupt nicht tut, wie Iris findet. Sie ist strikt gegen Parteipolitik, welcher Couleur auch immer. Und zu den Demonstrationen des Oppositionsbündnisses „Zajedno“ geht sie auch nicht – „aus Prinzip“, wie sie sagt.

Ihre Freundin, Ivana (20), studiert serbische Literatur. Ivana hat lange schwarze Haare, ein auffälliges Make-up, die Lippen rot angemalt, an den Fingern glitzernde Ringe. Beide sagen, daß sie vom ersten Tag der Demonstrationen an dabei waren und auch weiterhin jeden Tag kommen. Allein seien sie auch nicht, denn ihre Professoren seien auch auf der Demonstration. Iris fuchtelt mit den Armen durch die Luft. Aber die Professoren sind in der Menge nicht so leicht auszumachen.

„Fast alle Professoren unterstützen die Demonstrationen der Studenten“, sagt Husny Kurtović. Er ist 70 Jahre alt, emeritiert, betreut aber dennoch Studenten im Vordiplom, bei Magisterarbeiten und Dissertationen. „Wir kämpfen um Demokratie und Parlamentarismus“, sagt der Professor für Elektrotechnik mit leicht österreichischem Akzent. „Wenn die Wahlen nicht anerkannt werden, werden wir die nächsten Jahrzehnte im Dunkeln leben.“

Im Gegensatz zu den Studenten geht er zu den Demonstrationen von Zajedno. Ebenfalls: „Aus Prinzip. Nicht weil ich Drašković oder Djindić unterstütze, sondern weil ich Demokratie und Parlamentarismus will.“ Seine Tochter und der Enkel sind schon im Ausland. „Aber sie sollen hier leben können, in Serbien“, sagt der Professor mit einem sehr traurigen Blick.

Organisiert werden die täglichen Demonstrationen von einem sogenannten „Initiativausschuß“. Dieses Gremium, das aus neun Studenten aller Fakultäten besteht, legt die tägliche Demonstrationsroute fest, organisiert einen eigenen Ordnerdienst und entscheidet auch ad hoc, wenn Zusammenstöße mit der Polizei drohen. Und der Ausschuß sorgt dafür, daß auf den Studentendemonstrationen auf gar keinen Fall Parteipolitik gemacht und auch für keine Partei geworben wird, auch nicht für eine der drei Parteien von Zajedno.

Zwar behaupten Studenten auf Nachfrage, alle Fakultäten seien an Protest und Streik gleichermaßen beteiligt, doch hinter vorgehaltener Hand ist zu erfahren, daß die philosophische, die philologische, die juristische, die chemische und die elektrotechnische Fakultät den Ton angeben und die aktivsten Mitglieder stellen.

Nenad (20), Chemiestudent, ist Mitglied im neunköpfigen Initiativausschuß der Studenten. Nur widerwillig läßt er sich ein paar Sätze über seine Aktivitäten entlocken. Er organisiert den Sicherheitsdienst entlang der Strecke und ist verantwortlich dafür, daß Provokationen und Zwischenfälle vermieden werden.

Am vergangenen Freitag hatte er alle Hände voll zu tun. Die Studenten hatten sich zum Ziel gesetzt, die Brücken über die Save, zentrale Verkehrswege zwischen Alt- und Neu-Belgrad, zu blockieren. Da die Miliz vor der Brücke einen Kordon gebildet hatte, wollten einige Studenten sie angreifen. Erst als Nenad ihnen klarmachen konnte, daß die Polizisten mit ihrem Kordon den Job für die Studenten erledigt hatten, verzichteten die Heißsporne auf eine tätliche Auseinandersetzung. Länger plaudern kann Nenad nicht mehr, denn gleich geht die Demonstration los.

Aus dem Lautsprecherwagen, der langsam an die Spitze der Demonstration gefahren wird, dröhnt britische Popmusik. Manchmal wird auch Bob Marley aufgelegt. Immer geht es in den gespielten Stücken um Freiheit, darum, tun und lassen zu können, was man will. Die Musik aus dem Lautsprecherwagen muß sich allerdings einer harten Konkurrenz aus Tausenden von Trillerpfeifen stellen. Der Lärm ist ohrenbetäubend, kilometerweit zu hören. Parolen werden nicht gerufen. Es wird nur Lärm gemacht, bestenfalls kommt ein vernehmbares „Buh“ hinzu, wenn der Weg an Regierungseinrichtungen oder dem staatlichen Fernsehen vorbeiführt.

Vuk (21), ebenfalls Chemiestudent, übernimmt dessen Part. Er demonstriert, sagt er, „weil die Regierung die Stimmen gestohlen hat“. Jeder Bürger habe aber das Recht auf seine Stimme. Der Protest sei gar nicht politisch, es gehe um Menschenrechte und Gerechtigkeit. Auf den Einwand, daß die Regierung dies etwas anders sehe, räumt er ein, daß der Protest vielleicht politisch sei, aber keinesfalls parteipolitisch. Auch er geht nicht zu den Demonstrationen von Zajedno. Vuk ist stolz, daß sein Vater, Professor für Chemie, auch im Demonstrationszug ist. Den hat nicht nur die Solidarität mit dem eigenen Sohn auf die Straße getrieben. Der Professor hat eigene Motive: „Auch für uns Professoren geht es um Gerechtigkeit“, sagt er. „Sie haben unsere Stimmen gestohlen, das ist die große Schande. Wenn wir jetzt nachgeben, verlieren wir alles.“

Das Ultimatum der Regierung ist verstrichen. Gestern hätten Studenten und Professoren den Lehrbetrieb wieder aufnehmen müssen. Andernfalls hatte die Regierung mit „Konsequenzen“ gedroht. Über die wird sie jetzt wohl nachdenken müssen.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen