: Gewollter Mangel?
■ betr.: „Langsamer Fortschritt“, taz vom 20. 12. 96
Es ist schon ziemlich scheinheilig, wie die Sozialsenatorin Beate Hübner (CDU) versucht, Berlin „auf den Weg zu einer behindertengerechten Stadt“ zu reden. Gemessen an den Möglichkeiten, die der Senat hat, sind die genannten Fortschritte nicht sehr beeindruckend. Was sie verschweigt, ist viel aufschlußreicher und macht deutlich, daß im Senat niemand daran denkt, die rechtlichen und politischen Rahmenbedingungen so zu verändern, daß tatsächlich eine Chance besteht, Berlin von einer behindertengerechten (eine Nummer kleiner tut's auch) zu einer behindertenfreundlichen (barrierefreien) Stadt zu machen.
Entgegen allen politischen Beteuerungen und entgegen den (rechtlich und politisch unverbindlichen) „Leitlinien zum Ausbau Berlins als behindertengerechte Stadt“ fehlt dem Senat nach wie vor der politische Wille für eine konsequente Verhinderung oder Beseitigung von baulichen oder technischen Hindernissen. Keineswegs aus „Gedankenlosigkeit“, sondern bewußt und gewollt [es] lehnt der Senat ab,
– „behindertengerechtes“ (barrierefreies) Bauen zu einem Pflichtfach im Architekturstudium zu machen (mit dem Ergebnis, daß kaum ein Architekt ausreichend sensibilisiert und sachkundig ist),
– in der angeblich „bundesweit fortschrittlichsten“ Bauordnung festzuschreiben, daß ausnahmslos alle neuen (!) Gebäude, also auch im Bereich Wohnen und Arbeiten, barrierefrei gebaut werden müssen (vom Senat erst im vergangenen Jahr und zeitlich nach (!) der Einfügung des „Benachteiligungsverbots“ in die Berliner Verfassung ausdrücklich abgelehnt),
– zu verlangen, daß vorhandene Barrieren nicht nur bei den seltenen „Nutzungsänderungen“ oder „Umbaumaßnahmen“, sondern schon dann beseitigt werden müssen, wenn dies baulich ohne großen Aufwand möglich und wirtschaftlich zumutbar ist (so zum Beispiel die Bayerische Bauordnung schon seit über 10 Jahren),
– dafür zu sorgen, daß historische Steine und Fassaden rechtlich nicht höher bewertet werden als die Interessen der Menschen, die in Baudenkmälern wohnen, arbeiten oder ihre Freizeit verbringen wollen (krasses Beispiel der letzten Tage sind die für über 100 Millionen Mark renovierten, aber nicht im entferntesten barrierefrei gestalteten Hackeschen Höfe, angeblich, weil die Denkmalpflege absoluten Vorrang hatte),
– dafür zu sorgen, daß überall dort, wo gegessen oder getrunken wird, mindestens eine der gesetzlich vorgeschriebenen Toiletten auch für Rollstuhlfahrer erreichbar und benutzbar sein muß (in bestehenden Gaststätten, Cafés, Kneipen usw. wenigstens dort, wo eine nachträgliche Umrüstung ohne weiteres baulich und wirtschaftlich möglich ist),
– die wenigen öffentlichen Behindertentoiletten (ca. eine auf etwa 30 Quadratkilometer) auch weiterhin zu erhalten (die Mittel dafür sind im Haushaltsentwurf 1997 gestrichen),
– dafür zu sorgen, daß „Behinderte im Rollstuhl“ das Verwaltungsgericht anrufen können, wenn sie durch bauliche Hindernisse daran gehindert werden, in ein Gebäude zu gelangen oder es bestimmungsgemäß zu nutzen und
– bei festgestellten Verstößen gegen das „Benachteiligungsverbot“ die Beseitigung von baulichen oder technischen Hindernissen ohne Rücksicht auf die Kosten durchzusetzen.
Auch die BVG ist noch lange nicht behindertengerecht. Wegen mangelhafter Wartung, oft auch nur, weil ein Fahrer mit der Bedienung der elektrischen Rampen und Hublifte nicht vertraut ist, dauert es nicht selten über eine Stunde, bis auf einer als behindertengerecht ausgewiesenen Linie ein behindertengerechter Bus zur Verfügung steht. Und wenn der Regierende Bürgermeister hohen Besuch hat, muß man noch sehr viel mehr Zeit mitbringen. Aus Anlaß des Spaziergangs des türkischen Staatspräsidenten durchs Brandenburger Tor setzte die BVG auf der Linie 100 bis spät abends im Ostteil der Stadt nur alte, also behindertenfeindliche Busse ein, obwohl laut Fahrplan jeder zweite Bus behindertengerecht sein müßte. Nach 16 (!) Bussen und ergebnislosen Funkkontakten mit der BVG-Zentrale gab ich halb erfroren auf. Und bei Eis oder Schnee – so die Auskünfte von Busfahrern – werden wohl die meisten der von unten nicht geschützten Einstiegshilfen einfrieren. Schließlich, auch das verschweigt die Sozialsenatorin, wird die BVG künftig keine behindertengerechten Busse mehr anschaffen, sondern nur noch solche mit einer manuell zu bedienenden Klapprampe am vorderen Einstieg, was wegen der räumlichen Enge im vorderen Teil der Busse für viele Elektrorollstuhl-FahrerInnen das Aus bedeutet.
Seit Jahren weigert sich der Senat beharrlich, eine detaillierte Antwort auf die Frage zu geben, aus welchen rechtlichen oder tatsächlichen Gründen in Berlin nicht möglich ist, was insbesondere in den USA, aber auch in Skandinavien, Dänemark, Holland und in anderen westlichen Ländern bereits zum Alltag gehört und gesetzlich abgesichert ist.
Da ist es schon einfacher (und billiger), klammheimlich vollendete Tatsachen zu schaffen und dann unter Berufung auf „Haushaltslage“ oder „Denkmalpflege“ ein paar Krokodilstränen zu vergießen, als sich politisch und rechtlich mit den Beteiligten auseinanderzusetzen. Prüfstein ist und bleibt für mich die „Not mit der Notdurft“. Solange nur ca. 0,2 Prozent aller Berliner Gaststätten, Kneipen, Cafés usw. und noch weniger Theater, Cabarets, Galerien usw. eine berollbare Toilette haben und RollstuhlfahrerInnen allein aus diesem Grund gehindert werden, am kulturellen, politischen und gesellschaftlichen Leben in dieser Stadt teilzunehmen, solange besteht der „langsame Fortschritt“ allenfalls aus ein paar mehr oder weniger „guten Taten“. Klaus Fischbach
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