Sie krallt sich fest im alten

Gesichter der Großstadt: Die 35jährige Bahnwärterin Monika Kahlenberger bedient die Schranken am letzten handbetriebenen Bahnübergang Berlins  ■ Von Hannes Koch

Scheppernd klingelt das alte Telefon der Bahn. Dies ist das Zeichen: Aus der bulligen Wärme des vom Kachelofen erhitzten Raumes tritt die Bahnwärterin hinaus in den Nebel, der von der nahen Spree aufsteigt. Unter dem Vordach, knapp neben dem Gleis, nimmt sie Aufstellung zwischen zwei hüfthohen Metallgestängen. Mit beiden Händen dreht sie die Kurbeln. „Ding-dong-ding“ machen die Glocken, als die Schranken sich senken.

Zurück in ihrem Häuschen hebt die Bahnwärterin den Telefonhörer und teilt dem Fahrdienstleiter in Charlottenburg mit: „Streckenposten sechs hat die Schranken geschlossen.“ Jetzt erst darf der Zug nach Wustermark vom Bahnhof losfahren.

Die 35jährige Monika Kahlenberger sichert den letzten handbetriebenen Bahnübergang in Berlin. Sie und ihre vier KollegInnen wuchten die Schranken herunter, in Schichtarbeit rund um die Uhr, Tag für Tag, Jahr für Jahr. „Ich mache hier das Licht aus“, sagt Kahlenberger. Sie hofft, daß die Bahn das technische Altertum am Ruhwaldweg in der Nordostecke Charlottenburgs nicht vor 1998 abschafft.

Kahlenberger krallt sich fest im alten. Schon ihre Großmutter war Schrankenwärterin in der Nähe von Greifswald. Sie wohnte am Bahngleis mitten im Wald. Die Enkelin staunte, wie sie die schweren Balken auf- und niederbrachte. Ob die Großmutter sie als Mädchen auch an die Kurbeln ließ, weiß Kahlenberger nicht mehr. „Wegen der Nostalgie“ arbeite sie heute gern an der Schranke.

Die ausgebildete Facharbeiterin für Eisenbahntransporttechnik hat sich freiwillig um den Strecken- posten beworben. „Als ich mir den Bahnübergang angeguckt habe, war es Sommer, dicht und grün.“ Schon bei ihrer Großmutter fühlte sie wohl „draußen in der Natur“. Ruhe, kein Krach wie an der Holzmarktstraße in Mitte, wo Kahlenberger wohnt. Der Bahnübergang am Ruhwaldsweg liegt an einer kleinen Straße, eingebettet zwischen Hügeln mit Kleingärten und dem Ufer der Spree. „Nachts hat man hier die Tierwelt“, sagt die Bahnwärterin. Es kämen Füchse und ganze Wildschweinfamilien samt Angehörigen.

Ein Blick aus dem Fenster des kleinen Raumes, der halb von dem Kachelofen eingenommen wird, zeigt, daß der Zug anrollt. Kahlenberger tritt wieder hinaus, um die vorbeifahrende Regionalbahn mit strengem Blick zu mustern. Denn zu ihren Aufgaben gehört es auch, Defekte am Zug zu beobachten und zu melden. Sprühen die Bremmsbacken Funken, weil sie klemmen? Hat eines der Waggonräder eine Delle und schlägt bei jeder Umdrehung knallend auf die Schienen?

Am Schreibtisch trägt sie ihre Beobachtungen und die Durchfahrtzeit des Zuges per Hand in eine Kladde ein. Auch das Signalbuch und das Heft mit den Fahrdienstvorschriften wollen geführt und beachtet werden, denn die Bahndirektion denkt sich mitunter neue Regeln aus. „Langweilig wird es hier nicht“, sagt Monika Kahlenberger. Der Tag sei ausgefüllt. Vier-, fünf- oder sechsmal pro Stunde geht sie an die Schranken, telefoniert, füllt aus. Zwischendurch liest sie die Hörzu. Zur Lektüre von Büchern komme sie kaum, da man ständig unterbrochen werde.

Abwechslung bietet in den Pausen zwischen den Zügen auch die Pflege des Gartens vor dem Haus. Um einen winzigen Teich wachsen dort einige Rosensträucher. Eine Füchsin aus Ton paßt auf ihre Welpen auf. Ein kastriertes Idyll: Leider sei der größte Teil des Gartens unter dem neuen Schienenstrang verschwunden, der sich zwei Meter vom Haus entfernt auf frischem grauem Schotterbett breitmacht, erklärt die Bahnwärterin. Jetzt widmet sich der Streckenposten um so mehr der Ausgestaltung des Dienstraumes mit Weihnachtskalendern, bunt funkelnden Bäumchen und Strohsternen.

Aber Streß kann es doch geben an der Schranke. Manchmal kommen mehr Autos als gewohnt, und jeder hat es eilig. Dann kurbelt Kahlenberger die Schranke zunächst nur ein wenig herunter, damit die Fahrer durch das Klingeln anhalten. Das hilft nicht immer. Manchem gehetzten Automobilisten muß sie den Balken vor der Nase herablassen. „Da wird schon mal einer lautstark. Aber das kostet mich nur ein Lächeln.“ Ruhe ist Macht.