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■ In Zeiten knapper Kassen braucht eine Schulreform mehr Neugier und Phantasie, die Schüler mehr Zeit und RaumSchule als Lern- und Lebensort

Die Zeiten stehen derzeit in nahezu allen Ländern und Kommunen unter dem Zeichen der Haushaltskonsolidierung. Im Schulbereich ist deshalb mit Expansion nicht mehr zu rechnen. Vielen geht allein schon bei diesem Gedanken jeder Plan zu Reformen abhanden. Diesen Zustand allein zu beklagen, ist jedoch wenig hilfreich. Wer ein Bündnis für Bildung will, das die gesellschaftliche und politische Wertschätzung erhöht, das auch nur in der Lage wäre, den derzeitigen Stand der Finanzierung zu halten, muß Konzepte vorweisen, die mit der jetzigen Ausstattung eine bessere Schule machen. Das ist die einzige Chance, gesellschaftliches und politisches Terrain für unsere Bildungseinrichtungen zurückzugewinnen.

Von der benötigten Phantasie hat die SPD auf ihrem Jugendparteitag Ende November 96 wenig gezeigt. Sie hat eine Bildungsoffensive beschlossen, deren Kernaussage durch den Parteivorsitzenden Oskar Lafontaine auf die Kurzformel „Gesamtschule und mehr Geld“ reduziert wurde. Der SPD mag nicht aufgefallen sein, daß sie in zwölf von sechzehn Bundesländern die Kultusministerin oder den Kultusminister stellt. Und in diesen Ländern wird bei Haushaltskürzungen teilweise weit überproportional auf die Bildungsinstitutionen zugegriffen. Für die Glaubwürdigkeit wäre es hilfreich, wenn es wenigstens ein sozialdemokratisch regiertes Land gäbe, das den Bildungsbereich nicht zum Sparschwein degradiert.

Eine Schulreform muß heute vor allem zwei Veränderungen beinhalten: Erstens muß die Schule für die Kinder und Jugendlichen mehr sein als Unterrichtsanstalt. Sie muß ein inhaltlich und zeitlich erweitertes Angebot bereitstellen. Zweitens muß sich Schule selbst als eigenständige pädagogische Einheit verstehen.

Die Forderung nach Veränderung der Schule angesichts sich wandelnder Lebensbedingungen der Kinder sind mittlerweile bildungspolitischer Allgemeinplatz. Trotzdem fühlen sich in der Schule alle Beteiligten häufig dabei überfordert, Aufgaben zu übernehmen, die andere gesellschaftliche Institutionen wie z.B. die Familie nicht mehr wahrnehmen. Die Schule soll kein Familienersatz werden, trotzdem muß sie mehr Zeit und Raum für Lernprozesse (z.B. von sozialen Verhaltensregeln) zur Verfügung stellen, muß mehr Aufmerksamkeit auf die Regelung des Zusammenlebens in Gruppen legen und muß flexibler und schneller auf die Bedürfnisse von Kindern und Jugendlichen eingehen können. Schon dafür braucht die Schule mehr Zeit. Aber auch wegen zunehmender Berufstätigkeit der Eltern sind mehr Ganztagsangebote, mindestens aber eine verläßliche Halbtagsschule, unerläßlich. Wenn Schule von der Unterrichtsanstalt zum Lebens- und Lernort werden will, braucht sie eine andere Unterrichtsorganisation. Kinder, über deren zunehmenden Konzentrationsschwächen sich schnell alle Lehrkräfte einig sind, brauchen keine Unterrichtshäppchen im 45-Minuten- Takt. Sie brauchen mehr Zeit und Raum für individualisierte Lernformen und für die Gestaltung sozialen Zusammenlebens.

Erweitete Betreuungszeiten erfordern nicht unbedingt erheblich größere Kosten und mehr Lehrerstellen. Das kann auch durch eine bessere Zusammenarbeit und Abstimmung mit den Horten in den Kindertagesstätten, mit Angeboten freier Träger oder Sportvereinen erreicht werden und auch durch Einbeziehung von nichtpädagogischem Personal. Es können sehr wohl auch RentnerInnen mit Betreuungsaufgaben betraut werden, die oft darauf warten, angesprochen zu werden. Schulen können Geld statt Stellen erhalten, um ihr Angebot zu erweitern.

Reformen sind heute nicht mehr von oben verordnet durchsetzbar. Das ist auch gut so, ist doch durch die weitgehend staatliche Reglementierung des Unterrichtsalltags, das Bewußtsein über die Wirksamkeit pädagogischer Prozesse und über ihre Gestaltbarkeit zuwenig entwickelt.

Das wesentliche Ziel von Schulreform ist eine höhere Identifikation aller Beteiligten mit ihrer Schule. Eine Schule ist um so besser, je mehr sie von Schülern, Eltern und Lehrkräften als eigenes, selbstgestaltetes Werk akzeptiert wird. Dafür ist es notwendig, daß Schulen sich ein Programm geben und sich Rechenschaft darüber ablegen, was sie erreichen wollen und was sie nach eigener Einschätzung tatsächlich bewirken. Eine autonome Schule braucht ein Verständnis von sich selber, das sich nicht aus der Summe der jeweils individuell Unterrichtenden versteht, sondern als kooperativ pädagogische Gesamtveranstaltung.

Die Schule braucht nicht nur mehr Freiräume, ihr eigenes Schulleben und ihre Unterrichtsorganisation zu gestalten, sie muß auch frei über ihre Sachmittel bis hin zur kleinen baulichen Unterhaltung entscheiden können. Mit festem Budget kann sich eine Schule über die Reduzierung der Energie-, Abfallentsorgungs- oder Reinigungskosten verständigen, um diese Gelder für pädagogisches Material auszugeben. Nur auf einer solchen Basis kann sie ein Kostenbewußtsein entwickeln und Prioritäten in der Verteilung setzen.

Eine solche Schule braucht eine andere Regelung der Arbeitszeit für die Lehrkräfte. Sie braucht ein Zeitbudget, über das sie verfügen kann. Es geht dabei nicht um mehr Unterricht, sondern um eine andere Verteilung und Organisation der Arbeit. Ein mögliches Modell könnte die reguläre Arbeitszeit im öffentlichen Dienst zugrunde legen und in Jahresarbeitsstunden umrechnen. Unter Verrechnung der Ferien würde beispielsweise eine Wochenarbeitszeit von 45 Zeitstunden erreicht. Davon bliebe ein Drittel individuell verfügbar. Zwei Drittel würden durch die Schule gemeinsam verteilt für Unterricht, Betreuung und Beratung von SchülerInnen, Erarbeitung des Schulprogramms, Konferenzen etc.

Dabei soll durchaus eine Entlastung durch mehr Arbeitsteilung bei der Vorbereitung des Unterrichts und eine gerechtere Verteilung innerhalb der Schule erreicht werden. Die derzeitige Bemessung der Arbeitszeit nach Unterrichtsstunden dagegen behindert geradezu die Entwicklung der Schule zum Lern- und Lebensort und vergeudet Kapazitäten. Hier liegt der Dreh- und Angelpunkt grundlegender Schulreform.

Eine solche Veränderung ist schwer, muß sie doch hundert Jahre alte Traditionen der Arbeitszeitregelung über Bord werfen. Eine solche Reform ist auch nicht flächendeckend einzuführen. Sie muß über den Weg von freiwilligen Versuchen beginnen, aber diese müssen mit allem Nachdruck gestartet werden. Sybille Volkholz

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