piwik no script img

Peeping Web

■ Digitale Kameras können über das Internet gesteuert werden: Spielzeug für Spanner und Waffe des großen Bruders

Das heimliche Löcherschnitzen hat ein Ende. Die gebückte Haltung und die Beschränkung auf das eine, das peepende Auge, sind überflüssig geworden. Wer sich bisher aus Angst vor Entdeckung den Blick durchs Schlüsselloch verkniffen hat, wird entzückt sein, auf welch unbeschwerte Weise solche verschwiegenen, verbotenen Wünsche nun endlich in Erfüllung gehen können.

Das Internet macht es möglich. Über versteckt installierte Kameras werden Bilder aus Umkleidekabinen, öffentlichen Bedürfnisanstalten, Hotelzimmern und ähnlich spannenden Orten ins Netz gespeist. Am Heimcomputer können die Peeping Toms nun ganz entspannt zusehen, wie irgendwo irgend jemand sich abmüht mit all jenen kleinen Handreichungen und Tätigkeiten des täglichen Lebens, bei denen wir am liebsten allein gelassen werden.

Seit der ersten Web-Cam, die live und rund um die Uhr Auskunft gab über den Inhalt einer Kaffeekanne und so den lästigen Weg über den Gang ersparen sollte, ist das Angebot der im World Wide Web live übertragenen Bilder zu einer nur noch schwer überschaubaren Flut angewachsen. Manche werden abgeschaltet, neue kommen hinzu. Allein die Web-Site http://www.dsu.edu/~anderbea/ machines.html von Antony Anderberg, Student der Computerwissenschaften an der Dakota State University, listet, in vier Rubriken aufgeteilt, mehr als 100 Web-Cams auf. Wer hier sucht, der findet neben den allseits bekannten Satellitenaufnahmen oder den Panoramablicken über kalifornische Strände so verlockende Angebote wie die erste interaktive Modelleisenbahn (http://rr-vs .informatik.uni-ulm.de/rr/). Man kann aber auch Mitglied werden in einem von der University of Southern California organisierten „garden club“ (http://www.usc .edu/dept/garden). Tausende von Jim Knopfs sollen sich täglich in den Rechner der Universität von Ulm einloggen, um dem ungeheuren Schauspiel zuzusehen, wie sich der Zug im immer gleichen Rund bewegt. Und im Gartenclub von Kalifornien verhalf ein einarmiger Roboter bisher mehr als 2.500 verhinderten Hobbygärtnern zu ihrem Glück, indem er, von ihnen ferngesteuert, für sie pflanzt und harkt und wässert.

Wer ausschließlich auf den heimlichen Blick durchs Schlüsselloch fixiert ist, war von solchen Dingen bisher enttäuscht. Aber kommerzielle Anbieter haben erkannt, daß sie diese heimliche Passion für sich ausnutzen können. Da gibt es zum Beispiel „Petra's Room“ (http://www.widexs.com/ cam/), der „irgendwo in Holland“ liegt. Zumindest auf den ersten Blick ist intime Einsicht gewährt – alle zehn Sekunden wird das Bild einer jungen Frau auf einer Ledergarnitur aufgefrischt. Petra sitzt brav in Positur, hält einen Telefonhörer, spricht und löscht endlich, wenn's Zeit ist für das Bett, das Licht. Zurück bleibt ein schwarzes Loch. Bei näherer Betrachtung wird offenbar, daß die Szene gestellt ist. Sie soll uns nur in die „International World of Business“ locken, wo wir unter anderem darüber aufgeklärt werden, daß die Firma X auf dem Gebiet der Wellpappen große Erfahrung besitzt. Ein Reiz bleibt auch in diesem Fall spürbar. Er kann unwiderstehlich werden, selbst wenn es nur darum geht, leere öffentliche Räume und Plätze zu überwachen. David Bohnett aus Los Angeles hat mit „relativ einfachen Mitteln“, wie er sagt, einer simplen Bushaltestelle zu Weltruhm verholfen. Mehr als eine Million Besucher, sagt Bohnett, hätten seine Web-Cam in Beverly Hills besucht, nur um zuzusehen, wer einen Bus betritt oder verläßt.

Die Frage nach dem tieferen Sinn beantwortet Bohnett mit einem Schild, auf dem „Hi Mom“ geschrieben stand. Da habe jemand seine Mutter grüßen können, die vielleicht gerade in Frankreich eingeloggt war, spekuliert der überzeugte Anhänger dieser Art technischen Fortschritts. Für die meisten Leute nämlich sei das World Wide Web ein eher verwirrender Ort, die Web-Cam dagegen liefere bekannte Bilder aus einer vertrauten Umgebung. Wer diese betrachte, vergesse, daß auch sie nur aus dem Computer kommen.

Eine rührende Geschichte, die stark an den Auftritt von Schwager Klaus im TV-Quiz erinnert. Nichts Neues also? Oder doch? Wie läßt sich diese ungeheure Lust an Bildern aus der Fremde verstehen? Was ist der Kick?

Seit langem wird beinahe jede Geste und jeder Schritt im Supermarkt, in der Bank, beim Tanken und selbst beim Pinkeln im Hotel von Überwachungskameras registriert. Aus Sicherheitsgründen, heißt es, und bisher hat sich niemand sonderlich daran gestört. Denn die Überwacher am anderen Ende sind unbekannt, diskret, die Kameras nett verpackt, versteckt, unsichtbar und leise. Und die Aufnahmen, so jedenfalls wird versichert, sind unter Verschluß, sie werden nach ein paar Wochen gelöscht.

Im Internet könnten sie aber auf beliebig vielen Festplatten abgespeichert werden. Manche Bilder sind unverfänglich, zum Beispiel der Blick vom Rockefeller Center in New York (http://www.ftna .com/cents.cgi), freiwillig inszeniert wie die Ansichten des Wohnzimmers einer amerikanischen Familie (http://www.teleport.com/ ~lakeoz/lroomcam.htm), oder ein Scherz wie die legendäre, stets unbesetzte Toilette in der Universität von Oslo (http://habrok.uio.no/ toiletCam.html).

Was aber ist mit jenen Bildern, die tatsächlich heimlich aufgenommen sind? Was wäre, wenn wir uns plötzlich selbst am Bildschirm gegenübersäßen? Zur großen Freude aller, die auf der Suche sind nach einer intimen Bildsequenz von ihrem Nachbarn, von ihrer Liebsten oder von irgend jemand irgendwo da draußen?

Netze können zusammengeschaltet werden. Bisher nicht vorstellbar oder einfach nicht bedacht: Jede Überwachungskamera, an welchem Ort und zu welchem Zweck auch immer installiert, läßt sich auch als Web-Cam nutzen. So ist es zum Beispiel ohne großen technischen Aufwand möglich, daß Bilder aus einem Supermarkt, die zeigen, wie jemand etwas aus dem Regal nimmt und unter den Mantel steck, direkt ins Internet eingespeist werden, verbunden mit einem öffentlichen Aufruf, bei der Fahndung nach dem Dieb zu helfen. Ede Zimmermann ist ein Waisenknabe dagegen.

Nur mit Grausen auszumalen sind auch die vielen neuen Möglichkeiten, die all den Kameras in U-Bahnhöfen, Banken und nicht zuletzt der Polizei aus diesem neuen Übertragungsweg zuwachsen. Und abgesehen von offiziellen Stellen, die sich dafür vielleicht eine gesetzliche Erlaubnis maßschneidern lassen: Auch jeder halbwegs begabte Computerfreak, der in der Lage ist, ein Kabel mit dem anderen zu verbinden, könnte die eine oder andere Kamera nutzen, um diskrete Bilder aufzunehmen von irgendeiner VIP, die sich mit ihrer Geliebten trifft in einer dieser gutbewachten Hotellounges. Die Drohung, solche Aufnahmen mit „Update alle 10 Sekunden“ im Netz der Netze zu veröffentlichen, wird ihre erpresserische Wirkung kaum verfehlen.

Es bibt bereits erste Anzeichen, daß die Gefahr eines Bilderterrorismus online nicht mehr nur spekulativ ist. Im Rahmen einer amerikanischen Talkshow haben neulich zwei Experten für Computer im Netz nach Bildern dieser neuen Art gesucht. Sie fanden unter anderem eine Sequenz wie aus einem Horror- oder Pornofilm: Ein Hotelzimmer. Dann ein Bad. Jemand, der sich auszieht. Die Kamera folgt jeder Bewegung.

Irgendwo, so war sich die Talkrunde einig, muß es eine Hand gegeben haben, von irgend jemand, der sie aus der Ferne geführt hat. „This is real hidden stuff“, sagten die Fachleute, verschwiegen die Adresse, versicherten aber, daß es noch „eine Menge mehr von diesem Zeug“ im Web gebe. Öffentlich im Fernsehen zeigen könnten und wollten sie solche Bilder aber nicht.

An diesem Abend hat der Riegel der Gesetze zum Schutz der Persönlichkeit und ihrer Intimsphäre noch funktioniert. Trotzdem war die Frage beantwortet, unter der Die Sendung stand: „Are you being watched?“ You are. Frank Stehling

fstehling@snafu.berlin.de

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen