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So ein Mädchen ist schon eine Notlage

Proteste gegen die Ansichten der niederländischen Gesundheitsministerin zur Abtreibung  ■ Von Jeannette Goddar

Es kommt mir nicht leicht über die Lippen, doch ich kann mir vorstellen, daß eine Frau aus einer ausländischen Kultur in eine Notlage kommt, wenn sie das dritte oder vierte Mädchen bekommt; ihre Ehe, vielleicht sogar ihr Leben auf das Spiel setzt.“ Eine Abtreibung aufgrund des Geschlechts sei nicht grundsätzlich abzulehnen. Mit dieser Aussage in einer aktuellen Stunde des niederländischen Parlaments wiederholte die linksliberale Gesundheitsministerin Els Borst eine Ansicht, mit der sie schon in der vergangenen Woche einen heftigen Streit über das Abtreibungsrecht ausgelöst hatte. Sie legte nahe, daß es für Musliminnen gerechtfertigt sein könnte, weibliche Embryos allein aufgrund des Geschlechts abzutreiben. „Abtreibungswahnsinn“ witterte daraufhin die Bild-Zeitung, und der Utrechter Kardinal Adrianus Simonis fürchtete gar, daß „Seehundbabys“ es in den Niederlanden besser haben als das ungeborene Leben. Auch der Rat der niederländischen Muslime schaltete sich ein: Schwangerschaftsabbruch, nur weil ein Mädchen zu erwarten ist, sei auch im Islam „inakzeptabel“. Den betroffenen Frauen müsse auf andere Weise zu helfen versucht werden.

Die Frage, ob das Abtreibungsrecht in den Niederlanden zu liberal ist, ist in letzter Zeit auf die Tagesordnung der niederländischen Politik gerückt. Letztes Jahr verhinderte ein Richter die Ausstrahlung einer mit versteckter Kamera aufgezeichneten TV-Dokumentation, die nach Aussage der verantwortlichen Redakteure belegt hätte, daß „ein anstehender Winterurlaub Grund genug für eine Abtreibung sei“.

In der vergangenen Woche erklärten zwei Ärzte in der Öffentlichkeit, bei jeder Frau eine Abtreibung vorzunehmen, die dies wünsche – auch wenn der Grund nur sei, daß die Frau kein Mädchen zur Welt bringen wolle. „Sie brauchen mir die Gründe nicht einmal zu verraten“, so Doktor van den Bergh. Nach Ansicht weiter Teile der niederländischen Öffentlichkeit hat die Gesundheitsministerin Borst mit ihrer Reaktion auf diese Aussage in der aktuellen Stunde des Parlaments nichts anderes getan, als die geltende Rechtslage zu interpretieren: Das 1984 verabschiedete „Gesetz zum Schwangerschaftsabbruch“ fordert, daß eine Frau, die abtreiben will, sich in einer „Notlage“ befinden müsse. Zwischen dem Gespräch mit dem Arzt und dem Eingriff müssen fünf Tage liegen. Die Kosten werden übernommen. Was eine Notlage ist, ließ der Gesetzgeber offen.

„Der Gesetzgeber hat die moralische Verantwortung voll in die Hände der Frauen gelegt, unabhängig von ihren Motiven. Wie viele Frauen aus trivialen Gründen abtreiben, ist nicht bekannt und soll auch nicht bekanntwerden“, kommentierte die liberale Tageszeitung De Volkskrant. Eine Sprecherin des Gesundheitsministeriums sagte der taz: „Wir haben uns entschieden. Die Frau steht im Mittelpunkt, nicht der Arzt, nicht das Kind.“

25.000 bis 30.000 Frauen nehmen jedes Jahr in den Niederlanden ein Abtreibung vor; davon reisen 8.000 bis 10.000 aus dem Ausland an. Von den niederländischen Frauen, die einen Schwangerschaftsabbruch machen lassen, sind rund 40 Prozent Migrantinnen.

Im Auftrag des Gesundheitsministeriums recherchiert nun eine Untersuchungskommission die Zustände in den 19 niederländischen Abtreibungskliniken. Ende März sollen die Ergebnisse der Untersuchung in den Kliniken vorgelegt werden. Dann wird es erneut Streit geben. Die christdemokratische Partei CDA, die 1984 für das geltende Gesetz verantwortlich zeichnete, fordert bereits Verschärfungen. Seit 1994 ist die CDA zum erstenmal seit 17 Jahren in der Opposition, und nun gerät sie unter Druck insbesondere der an der Regierung beteiligten rechtsliberalen VVD und der sogenannten kleinen Rechtsparteien GPV und RPF.

Für viele Konservative und Religiöse steht das Abtreibungsrecht in einer Linie mit dem umstrittenen Sterbehilfegesetz, das einem Arzt, der aktive Sterbehilfe leistet, unter bestimmten Umständen Straffreiheit zusichert. Immer wieder geraten Ärzte, die bei depressiven Menschen, bei Komapatienten oder schwerstbehinderten Kindern Sterbehilfe leisten, in die Schlagzeilen. Keiner dieser drei Fälle ist vom Gesetz gedeckt; zu Strafverfolgung kommt es aber selten.

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