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Magic Girl Martina

■ Auf dem Weg zur Nummer eins: Die 16jährige Schweizerin Hingis erreicht souverän das Finale der Australian Open

Melbourne (taz) – Natürlich hatte sie es vorher gewußt. Lachend ging Martina Hingis zusammen mit ihrer tödlich ernst dreinschauenden Halbfinalgegnerin Mary Joe Fernandez durch den Kabinengang. Draußen warteten die Zuschauer auf ein sehenswertes Match. Doch sie wurden enttäuscht. Nur 69 Minuten brauchte die 16jährige Schweizerin, um die 25jährige Amerikanerin 6:1, 6:3 abzufertigen, und schickt sich nun an, die jüngste Spielerin zu werden, die in diesem Jahrhundert ein Grand-Slam-Turnier gewinnt. Im Finale (ARD, heute nacht 3.15 Uhr) wartet Mary Pierce, die Siegerin von 1995, die sich mit 7:5, 6:1 gegen die Graf-Bezwingerin Amanda Coetzer durchsetzte.

Von Chancengleichheit konnte nicht die Rede sein. Zwar hat Hingis schon oft über den anstehenden Generationswechsel im Damentennis geredet, doch niemals zuvor wurde dieser Umbruch so deutlich wie in diesem Halbfinale. Das neue Tennis ist schnell und rücksichtslos. Vorbei die Zeiten, in denen Spielerinnen mit der unterschnittenen Rückhand, die Steffi Graf perfektionierte, Zeit gewinnen und Gegnerinnen zu Fehlern zwingen konnten; gestrichen ist die taktische Variante der „Mondbälle“, jene Bogenlampen, die die Gegnerin weit aus dem Feld und damit aus dem Spiel treiben sollten. Spielerinnen wie Martina Hingis bestrafen dieses Spiel von gestern gnadenlos, peitschen solche Bälle zurück, wie es sonst nur Männer zu tun pflegen. Kein Wunder, daß Spitzenspielerinnen von heute Männer engagieren, die sie in den Trainingseinheiten richtig fordern. So besorgte Mutter Hingis ihrer Tochter für die australischen Turniere einen Tennislehrer, der vor Jahren als Profi zwar gescheitert war, sich als Sparringspartner jedoch prächtig bewährt.

Auch Steffi Graf trainierte in Australien gelegentlich mit männlichen Kollegen wie dem deutschen Martin Sinner, immerhin Nummer 145 der Weltrangliste, der sich anschließend prompt wunderte, in „45 Minuten noch nie so viele Bälle geschlagen zu haben“ wie gegen die keine Pausen duldende Graf. Doch während die Weltranglisten-Erste ihr Spiel nicht mehr umstellen kann, lernt die junge Schweizerin, ab Montag selbst im Fall einer Finalniederlage schon auf Weltranglisten-Platz zwei, jeden Tag dazu. „Ich habe mich vor allem im letzten halben Jahr wohl ganz schön verbessert“, analysiert sie sich selbst. In den letzten acht Turnieren kam sie jedesmal mindestens ins Halbfinale, doch von einem rasanten Aufstieg will sie nichts wissen: „Man klettert nur Platz um Platz, das dauert schon seine Zeit“, belehrte sie auf der Pressekonferenz.

Noch genießt sie den Rummel, den ihre jüngsten Erfolge plötzlich um sie entfacht haben. Sie beantwortet selbst die schlichtesten Reporterfragen („Wie fühlen Sie sich als erste Schweizerin in einem Grand-Slam-Finale?“) ausführlich wie einen Schulaufsatz, unterbricht ihr Abendessen im Hotelrestaurant wie selbstverständlich für ihre Fans, die unbedingt mit ihr auf ein Foto wollen, und freut sich über ihre Geschenke: „Heute hab' ich ein Herz bekommen, darauf stand: Du hast mein Herz gewonnen“.

Noch schützt sie niemand. Ihre Mutter, eine ehemalige tschechische Spitzenspielerin, die ihre Tochter nach Martina Navratilova benannte und seit ihrer Geburt auf die Tenniskarriere vorbereitete, läßt ihr die Freiheiten, während Manager Damir Keretic erst gar nicht mit nach Australien gereist ist. Die Familie Hingis will es lieber allein schaffen. Schließlich kennt Melanie Hingis-Zogg ihre Tochter sowieso am besten. „Sie hat gesagt, ich sei noch nicht soweit, ein so großes Turnier zu gewinnen“, habe ihre Mutter vor Melbourne zu ihr gesagt, erzählt Martina, „und wenn du anderer Meinung bist, dann beweis es mir.“ Im bislang einzigen wackligen Spiel von Martina Hingis bei den Australian Open gegen die Rumänin Ruxandra Dragomir (7:6, 6:1) schien ihre Mutter und Trainerin recht zu behalten. „Da war ich einfach zu nervös.“ Am Tag nach diesem schwachen Auftritt ging Martina Hingis zum Reiten und fiel prompt vom Pferd. „Mir konnte gar nichts besseres passieren“, sagt sie lachend, „denn dadurch bin ich richtig aufgewacht und spiele seitdem hier fast schon perfektes Tennis.“

Für den Fall, daß sie auch Mary Pierce niederhält, die als erste Ungesetzte seit 13 Jahren in einem Grand-Slam-Finale steht, denkt sie darüber nach, das Pferd zu kaufen, „schließlich hat es mir hier viel Glück gebracht“. Außerdem gefalle ihr der Name der Stute: „Sie heißt Magic Girl ...“ Andreas Leimbach

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