: Alle Fragen offen
Verfolgungsrätsel ohne Lösung: Carmen Boullosas Roman einer schweren Kindheit in Mexiko ■ Von Cristina Nord
Küchenscheren, die sich aus eigenem Antrieb an Schildkröten vergehen, Tintenflecken, die zu fetten, schwarzen Spinnen werden, ein Bild, das über Nacht Farbtupfer in die Rockfalten seiner Figuren streicht: Was in Garcia Márquez' Macondo fröhlicher Alltag wäre, nimmt sich bei der mexikanischen Autorin Carmen Boullosa bedrohlicher aus. In ihrem Roman „Verfolgt“, kürzlich bei Aufbau in deutscher Übersetzung erschienen, treiben die beseelten Dinge keinen magisch-realistischen Schabernack, sondern unterstreichen den Schrecken, der sich in den Erinnerungen der namenlosen Ich- Erzählerin verbirgt.
Dabei hätte das, was da erinnert wird, beinahe eine unbeschwerte Kindheit ergeben können. Eine Kindheit ohne Schläge, ohne jähzornige Lehrer, ohne verständnislose Eltern. Eine Kindheit in den frühen sechziger Jahren, in einem der besseren Viertel von Mexiko- Stadt, ungetrübt von irgendeinem Mangel, abgeschirmt wie der Garten des weitläufigen Hauses, das die junge Heldin mit ihren Eltern und ihren Schwestern Male und Jose bewohnt.
Doch Boullosa, wie ihre Protagonistin 1954 geboren, will kein verlorenes Paradies beschwören. Für die Ich-Erzählerin ist Sorglosigkeit ein fremdes Wort. Schon im Augenblick ihrer Geburt, an die sie sich – wie später auch an ihren eigenen Tod – bestens erinnert, macht sich ein anderes Wort breit: Angst.
Noch ist es nicht die eigene Angst, sondern die der Mutter: „An diesem Tag war sie bleicher als sonst, und als ich sie zum erstenmal sah, spiegelte sich in ihrem Gesicht diese Angst wider. Damals hätte ich nicht im Traum daran gedacht, daß diese Angst auf mich überspringen und mich niemals mehr loslassen würde.“
„Verfolgt“, im Original 1989 als zweiter Roman der mexikanischen Autorin erschienen und mit dem schlichteren Titel „Antes“ („Früher“) versehen, steht ganz im Zeichen dieser Angst. Allgegenwärtig ist sie und doch durch nichts begründet.
Kein traumatisches Ereignis liefert einen Schlüssel für die Bedrohung, der sich die Erzählerin ausgesetzt sieht. „In der Nacht waren sie alle wieder da, höhnisch und mit ihren spitzen Nägeln, um mich zu verfolgen. Ich mußte nur die Augen schließen (vom Einschlafen war schon gar keine Rede mehr), und die Geräusche und Schritte quälten mich, indem sie noch lauter wurden.“
Woher die Schritte stammen und warum sie das Mädchen nicht in Ruhe lassen, bleibt offen – genauso wie die Frage, ob es sich um eine Einbildung des Kindes handelt. Je weniger der Roman seinen Lesern erklärt, um so größer wird das Terrain, das er dem Schrecken öffnet.
So ist „Verfolgt“ ein Text, der souverän mit seinen Lücken arbeitet. Er verschweigt im Erzählen und erzählt im Verschweigen. Nur einmal sagt er zuviel. Vom Wunsch nach einer Aussage verleitet, entwirft Boullosa ein düsteres Szenario, das Technikgläubigkeit und Umweltzerstörung anklagen will und dabei allzu eindeutig gerät. Davon abgesehen, beherrscht die Autorin die Kunst der Auslassung, des Rätsels, das schon dort beginnt, wo sich die Identität der Erzählerin nicht bestimmen lassen will:
„Ich bin nicht mehr die, die ich als Kind war. Ich bin zwar noch die, die ich war, ich glaube, ich bin vom Tag meiner Geburt bis heute dieselbe geblieben, aber ich habe nicht mehr dieselben Augen“, heißt es an einer Stelle. Das erinnernde und das erinnerte Ich mögen einander begegnen, sich gar die Hand geben, doch nur, um bald wieder auseinanderzutreiben. Wer sich erinnert, läßt der Text offen. Es könnte eine erwachsene Frau sein, die auf ihre Kindheit zurückblickt.
Aber das Mädchen stirbt, bevor es die Schwelle zur Adoleszenz überschreiten wird, und sein Tod, so man es sich nicht einfach machen und ihn symbolisch nehmen will, läßt ein posthumes Erinnern denken an eine Kindheitsgeschichte, die aus dem Jenseits heraus erzählt wird. An eine Perspektive also, die den Tod ihrer Trägerin überlebt.
Nach „Sie sind Kühe, wir sind Schweine“ (1991, dt. 1993) und „Die Wundertäterin“ (1993, dt. 1995) ist „Verfolgt“ der dritte Roman Boullosas, der auf deutsch vorliegt. Ein kleiner Ausschnitt ihrer Arbeit, der neugierig macht auf die übrigen Romane, Lyrikbände und Theaterstücke. Und der zugleich zeigt, daß in Lateinamerika eine neue Generation von Autoren am Werk ist, die ebensoviel Beachtung verdient wie die altbekannten Namen.
Carmen Boullosa: „Verfolgt“. Aus dem Spanischen von Susanne Lange, mit einem Fototeil von Renate von Mangoldt.
Aufbau-Verlag, Berlin 1996, 148 Seiten, 24 DM
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