: Mit der Zunge schnalzen
Helmut Lachenmann inszeniert „Das Mädchen mit den Schwefelhölzern“. Buhrufe und viel Beifall an der Hamburgischen Staatsoper ■ Von Ute Schalz-Laurenze
Allen Unkenrufen zum Trotz: die Kunstgattung Oper lebt. Listet man nur die Uraufführungen des letzten Jahres auf, so muß man feststellen, daß gerade – neben einem Übermaß an kulinarischen Literaturopern – die KomponistInnen Opern schreiben, die das l'art pour l'art in Frage stellen und ihre politische Haltung und ästhetische Skepsis im Kunstwerk austragen. Das „Kraftwerk der Gefühle“ (Alexander Kluge über die Oper) fordert gerade die heraus, die sich vielleicht mehr als andere am und im Betrieb reiben.
Für letzteres steht besonders der 1935 geborene Helmut Lachenmann, für den ästhetische Wahrheit und „Schönheit die Verweigerung von Gewohnheit“ ist. Für jedes seiner Stücke erfindet er sowohl das Material als auch das strukturelle Verfahren vollkommen neu beziehungsweise eröffnet Vertrautem immer neue Bedeutungszusammenhänge. Kein Wunder, daß er dem eigenen Erfolg gegenüber jeweils zutiefst mißtrauisch ist.
Die Schmerzen, unter denen Helmut Lachenmann sein nun an der Hamburgischen Staatsoper uraufgeführtes „Mädchen mit den Schwefelhölzern“ sozusagen geboren hat, sind bekanntgeworden: Seit zehn Jahren besteht der Plan, seit neun Jahren der Kompositionsauftrag – erste Ideen hat es schon 1975 gegeben. „Ich hasse – nicht nur in der Kunst – den Messias und den Hanswurst. Der eine ist mir Zerrbild des anderen. Dafür liebe ich den Don Quichotte, und ich glaube an das Mädchen mit den Schwefelhölzern.“ Zweimal hat Lachenmann dem Hamburger Intendanten Peter Ruzicka absagen müssen, einmal ist ihm die Partitur in Italien aus dem Auto geraubt worden. Da sei er schon ganz froh gewesen, daß er das Ganze los wurde. Aber der Dieb gab alles zurück. Wenn das Werk nur annähernd so spannend wäre wie seine Entstehungsgeschichte, so sei schon viel gewonnen, sagte Lachenmann selbstironisch.
Es war klar, daß Lachenmann keine Literaturvertonung schreiben würde, und es war auch klar, daß Hans Christian Andersens Märchen „Mädchen mit den Schwefelhölzern“ – das sich kurz vor seinem Erfrierungstod die Hölzchen anzündet – als Archetyp der Ausgegrenzten für ihn eine gesellschaftspolitische Parabel ist. Er ergänzt das Märchen durch einen Brief von Gudrun Ensslin, die er in seiner Jugend gekannt hat und die wie Andersens Mädchen den Gehorsam verweigert. Wird schon mit dieser Assoziation eine verharmlosende Auffassung des Märchens vermieden, so macht Lachenmann den politischen Aspekt mit einem weiteren Text zu einer regelrechten Klammer: „Verlangen nach Erkenntnis“ von Leonardo da Vinci, der die Naturgewalten mit der Unruhe des menschlichen Suchens vergleicht und angesichts einer dunklen Höhle sowohl Furcht als auch Verlangen hat: „... Zwei Gefühle ... Musik mit Leonardo“, heißt ein zunächst selbständiges Kammermusikstück, das in erweiterter Fassung das Zentrum der Oper bildet.
„Musik mit Bildern“ heißt der Untertitel, und genauso ist es auch: Das zweistündige Stück ist durch und durch Musik in einzelnen Stationen oder Bildern. Das Riesenorchester befindet sich zwar im Orchestergraben, aber so, daß es immer auch Bestandteil des Bühnenbildes ist, weitere Bläser- und Schlagzeugformationen – insgesamt für elf Schlagzeuger – sind auf der Bühne plaziert und in acht Logen verteilt. Und in dieser „erweiterten Klanglandschaft“, wie Lachenmann selbst das musikalische Geschehen eher verharmlosend genannt hat, gelingt es ihm, den traditionellen Unterschied zwischen Geräusch und Klang vergessen zu machen: Mit einer bestürzenden, immanent musikalischen Logik entwickeln sich Strukturen von großer Stille und überwältigender Kraft, jedes Geräusch ist Klang und jeder Klang Geräusch. Die Musik droht, sie klagt, sie erfriert zu Eis, sie hat Angst, sie verstummt, sie wehrt sich, sie „repräsentiert“ wirklich die Personen und Zustände, von denen sie spricht. Indem Lachenmann uns in immer neue Bedeutungszusammenhänge zwingt, uns nie erlaubt, uns irgendwo einzurichten, kann er sich mit einfachen Mitteln die sinnlich-direkte Gestaltung von des Mädchens „Himmelfahrt“ erlauben. Von ähnlich soghafter Wirkung ist die irreale Klanglichkeit des (Mundharmonika-ähnlichen) japanischen „Sho“-Instruments, die das Bild „Sie waren bei Gott“ prägt. Die Sängerinnen Sarah Leonhard und Melanie Walz stehen im Orchester und werden sowohl den Geräuschanteil (Schnalzen, Abklopfen der luftgefüllten Backen) als auch den gesanglichen Anforderungen virtuos gerecht. Gesungene Sprache gibt es nicht, nur unterschiedlich verfremdete Sprachlosigkeit, aus der eine neue Sprache gefunden werden kann. Für Lachenmanns Anspruch, Musik so zu entwickeln, daß sie vorher quasi nicht existiert hat, war der Umgang mit der menschlichen Stimme die schwierigste Herausforderung.
Regisseur Achim Freyer vermeidet jeglichen Realismus und Aktionismus. Er arbeitet nur mit archetypischen Zeichen und Symbolen. Die zur Hälfte in Löchern sitzenden Darsteller, Sänger und Sprecher – sie sehen aus wie Michael Endes „Zeitdiebe“ – tragen einen Bischofshut, eine Weihnachtsmannkappe, eine Uhr, auch ein warm erleuchtetes Haus – versinnlichter Traum des Mädchens. Aber auch Gaukler und Ratten bevölkern die Straße. Einer trägt eine Narrenkappe, der andere wedelt mit einem Tier. Während der Aufführung steht das Mädchen mit blaugefrorenen Händen und Füßen und einem „Kauft“-Schild vor der Brust an der durchsichtigen Wand, wie eine Marionette, deren stilisierte Bewegungen längst jedes Leben verloren haben. Das Mädchen ist spiegelbildlich gedoppelt – gespielt von Anna Karger und Andrea K. Schlehwein.
Die dirigentische Gestaltung Lothar Zagroseks, künftiger Generalmusikdirektor der Stuttgarter Staatsoper, ist immer weich und organisch. Beim Hören der Musik Helmut Lachenmanns besteht immer die Gefahr, daß man nur zu bereit ist, dessen theoretische Definitionen in die Musik hineinzuhören. Aber diese Oper provoziert alle „Sensibilität gegenüber dem Zerbrechlichen“, ist mit unerhörter Konsequenz ein durch und durch herausforderndes „Wahrnehmungsspiel“ in der „Höhle des Löwen“ (Institution und Gattung Oper für den Komponisten). Lachenmann ruft auf zu der Utopie, die die Schwefelhölzer für Sekunden noch für das Mädchen bedeuten. Die türenknallenden Hanseaten wollten das nicht hören, womit sie freilich den Komponisten mit ihrem lautstarken vorzeitigen Verlassen der Staatsoper unbeabsichtigt eher ehren. Demgegenüber stand echter respektvoller Jubel für eine begeisternde Arbeit an der Hamburgischen Staatsoper.
„Das Mädchen mit den Schwefelhölzern“ von Helmut Lachenmann. Regie und Ausstattung: Achim Freyer. Hamburgische Staatsoper. Nächste Aufführungen: 29.1., 31.1., 1.2, 2.2. und 4.2., 19.30 Uhr. 4.2. 19 Uhr sowie ein Publikumsgespräch mit Helmut Lachenmann
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