: Rozette Kats: Ein Leben unterm Sauerstoffzelt
„1943 bin ich zu meinen Pflegeeltern gekommen. Meine richtigen Eltern habe ich nie kennengelernt. Sie sind ermordet worden. Ich war neun Monate alt, und ich bin bei diesen Leuten geblieben. Sie hatten ein Kind verloren. Ich konnte schon in der Öffentlichkeit sein, nur nicht unter meinem eigenen Namen. Als ich sechs Jahre alt wurde, haben sie mir die Wahrheit erzählt, am Abend vor meinem Geburtstag. Ich saß auf dem Schoß meines Vaters – meines Pflegevaters – und er hat mir eine Geschichte von einem Mädchen und einem Papi und einer Mami erzählt, und es war alles sehr traurig. Papi und Mami waren tot, das Kind war irgendwo anders – ich war völlig durcheinander. Ich hatte nur eine Angst: Ich darf hier nicht bleiben, ich muß weg. Dann hat er es mir erzählt. Und ich war froh, daß ich bleiben durfte. Am nächsten Tag war dann mein Geburtstag. Mai 1948. Ich habe immer den Namen Rita gehabt, Rita van der Weg. Meine Pflegeeltern haben mich nicht adoptiert. Nun sollte ich in die Schule gehen, und deswegen haben sie es mir erzählt. In der Schulzeit war ich Rita. Auf der Hochschule habe ich meinen eigenen Familiennamen geführt und hieß Rita Kats. Und als ich fast 20 war, da habe ich als ersten Schritt zu mir begonnen, meinen Namen zu führen: Rozette Kats. Seitdem bin ich ich. Seit diesem Abend, als ich sechs wurde, wußte ich, daß etwas mit mir war. Ich war von meinem Fundament losgeschraubt. Obwohl es so schien, als ob sich nichts änderte – alles war anders. Eigentlich habe ich erst nach 1992 was damit tun können. Mein ganzes Leben habe ich mich angepaßt. Ohne Religion. Ohne Bewußtsein. Ohne Judentum. Erst viel später, als ich meinen Mann kennengelernt und von ihm auch sehr viel über den Krieg gehört habe, habe ich angefangen, das mit mir zusammenzubringen. Das war bis dahin nicht meine Geschichte: der Krieg, Juden, KZs. Wenn ich zurückgucke, dann denke ich oft, ich habe in einem Sauerstoffzelt gelebt. Ich war da, aber ich hatte keinen Kontakt. Zweimal war ich in Auschwitz. Ich habe versucht, da etwas zu fühlen, was mich zu meiner Vergangenheit bringen könnte. Ohne den gewünschten Erfolg. Aber nach 1992 war das anders. All diese Kinder beim Kongreß hatten andere Geschichten, aber trotzdem, ich erkannte in all den Geschichten meine Geschichte. Alles, was ich vorher versucht hatte, hat einen Platz bekommen.“
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