: "Ein russisches Veto gibt es nicht"
■ Der stellvertretende Vorsitzende der SPD-Fraktion, Günter Verheugen, will die Nato-Osterweiterung nicht von der russischen Zustimmung abhängig machen, bietet aber eine drastische Abrüstung an. Die Bunde
taz: Noch Ende letzten Jahres haben SPD und Grüne gefordert, daß die Beitrittswünsche zur Nato in einem Zusammenhang mit den sicherheitspolitischen Belangen aller Nicht-Nato-Staaten in diesem Raum zu bringen sind. Gilt der Satz noch?
Verheugen: Ja, denn das ist eine vernünftige Position. Die Frage ist nur, wie man's macht.
Rußland macht nicht gerade den Eindruck, daß die jetzt anstehenden Nato-Beitritte im Einklang mit seinen sicherheitspolitischen Belangen stehen.
Das ist ein zentrales Problem der Nato-Osterweiterung nach Ostmitteleuropa. Wir haben dieses Problem, weil der Erweiterungsprozeß in Gang gesetzt wurde, bevor man wußte, wohin er eigentlich führen soll. Es wäre damals besser gewesen, mit Rußland einen breiten Dialog über die Sicherheitspolitik in Europa zu führen. Jetzt ist der Dialog schwieriger geworden, weil er stark mit der russischen Innenpolitik verwoben ist. Allerdings hat Rußland eine objektiv falsche Wahrnehmung von der Nato. Russische Sicherheitsinteressen werden durch die Nato nicht beeinträchtigt. Die Nato ist kein aggressives Bündnis. Im Gegenteil, die Nato wird an der russischen Westgrenze stabilisierend wirken. Rußland könnte sich dann seinen tatsächlichen Sicherheitsproblemen widmen, die liegen im Süden und Osten.
Ihr Wort in Tschubais Ohr. Jelzins Stabschef hat, wie zuvor Verteidigungsminister Rodionow, mit Konsequenzen gedroht, sollte sich die Nato erweitern.
Tschubais und Rodionows Wahrnehmung ist objektiv falsch. Wäre sie objektiv richtig, müßten wir ja einräumen, daß die Nato eine Bedrohung ist. Das ist sie nicht. Trotzdem muß man die russischen Vorbehalte ernst nehmen. Man muß mehr tun, als nur mit ihnen darüber zu reden. Man muß ihnen ein ernsthaftes Kooperationsangebot machen, und zwar ein vertraglich verankertes...
Eine Charta, wie sie von der Nato-Seite ins Spiel gebracht wurde, reicht nicht?
Ein Vertrag wäre vorzuziehen. Er schafft mehr Verläßlichkeit auf beiden Seiten. In diesem Vertrag muß Rußland beteiligt werden an den sicherheitspolitischen Aufgaben in Europa – außer der Verpflichtung der Nato-Partner zur gegenseitigen Verteidigung. Bestandteil einer solchen Kooperation wäre auch eine neue Vereinbarung über Rüstungsbegrenzung und -kontrolle. Wird die Nato um Polen, Ungarn und Tschechien erweitert, verfügt sie in Europa über eine Truppenstärke von 2 Millionen Mann, die Nicht-Nato-Staaten hätten 1,4 Millionen Mann. Das ist ein völlig untragbares Verhältnis. Positiv formuliert: Es existiert ein großer Spielraum für eine Absenkung der vereinbarten Höchstgrenzen bei den Truppenstärken.
Zwar spricht Nato-Generalsekretär Solana von einer dauerhaft privilegierten Beziehung zu Rußland, doch wird diese Beziehung nicht gleichberechtigt sein. Es ist doch eine Sicherheitsarchitektur mit schiefen Winkeln.
Die Organisation der Sicherheit in Europa beruht ja nicht allein auf der Nato. Ich würde mir wünschen, daß es im Rahmen der Verhandlungen mit Moskau zu einer Stärkung der rechtlichen Grundlagen und der Handlungsmöglichkeiten der OSZE kommt. Das würde Rußland entgegenkommen. Man kann die Gleichberechtigung im wirtschaftlichen Bereich durch eine Aufnahme in die G7 herstellen. Man kann Rußland eine größere Rolle bei der Konfliktfrüherkennung, bei der friedlichen Konfliktregelung, aber auch bei Peacekeeping geben. Da sehe ich eine Reihe von Möglichkeiten...
Aber keine völlige Gleichberechtigung.
Rußland ist gleichberechtigt. Im Sinne ihrer Frage fehlt nur die Nato-Mitgliedschaft. Die steht aber nicht zur Diskussion. Mit Rußland als Mitglied würde die Nato sich selbst aufheben. Sie würde sich von einem kollektiven Verteidigungs- in ein kollektives Sicherheitssystem verwandeln. Die Amerikaner haben zwar schon mit diesem Gedanken gespielt, aber für eine vorhersehbare Zukunft halte ich das für ausgeschlossen. Denn es stellt sich tatsächlich die Frage, ob wir ein europäisch- atlantisches Bündnis von Vancouver bis Wladiwostok mit den entsprechenden Sicherheitsgarantien wollen. Dann würden die Konflikte Zentral- und Ostasiens plötzlich zu einer europäischen Angelegenheit. Das ist keine realistische Option. Vorstellbar ist allerdings, daß sich über die OSZE die Verhältnisse so ändern, daß der Nato eine andere Rolle zukommt.
Auf amerikanischer Seite wird über ein Moratorium von fünf bis zehn Jahren nach der ersten Erweiterungsstufe nachgedacht. Die Ukraine will noch vor dem Jahr 2010 Mitglied der Nato sein. Muß man jetzt mit einer langen Phase der Dauerverhandlungen und der Instabilität rechnen?
Die Ukraine ist das am meisten vernachlässigte Land in Europa und das wird sich rächen. Für die Ukraine gilt das gleiche wie für Rußland: Es muß eine vertraglich geregelte Sicherheitspartnerschaft geben...
Aber keine Nato-Mitgliedschaft?
Ich würde es nicht so kraß formulieren.
Früher haben Sie, hat die SPD etwas ganz anderes formuliert. Da stand die gesamteuropäische Sicherheitsperspektive im Rahmen der OSZE im Vordergrund.
Ich unterscheide zwischen der sehr langfristigen Perspektive und den praktischen Schritten, die angesichts der realen Machtverhältnisse möglich sind. Daß die SPD nicht gegen die Öffnung der Nato zu Felde zieht, ist das Ergebnis eines sehr einfachen Denkprozesses: Die Sache ist beschlossen. Deshalb ist es sicher klüger, auf den Prozeß Einfluß zu nehmen, anstatt ihn permanent grundsätzlich in Frage zu stellen. Die deutsche Sozialdemokratie würde international völlig isoliert, wenn an ihrem Widerstand eine Zustimmung zur Osterweiterung im Bundestag scheitern würde. Außerdem stecken in der Nato-Öffnung durchaus Chancen. Die Chancen hängen gerade davon ab, daß der Prozeß offen bleibt. Allerdings hat die Bundesregierung bislang keine Kriterien benannt, nach denen die neuen Mitglieder ausgesucht werden...
Hat die Nato solche Kriterien?
Vermutlich nicht. Worum geht es bei der Osterweiterung? Um die Erhöhung der eigenen Sicherheit? Um die Erhöhung der Sicherheit der Beitretenden? Oder geht es um Demokratie und Menschenrechte? Klare Kriterien sind bislang nicht zu erkennen: Es werden jetzt möglicherweise die aufgenommen, deren objektive Sicherheitsbedürfnisse es nicht erfordern, und die werden nicht aufgenommen, deren Sicherheitsbedürfnisse es erfordern.
Aber Sie selbst sind doch für eine Aufnahme Polens eingetreten, auch dann, wenn bis zum entscheidenden Nato-Gipfel im Sommer die russische Zustimmung nicht vorliegen sollte.
In der Tat glaube ich, da Deutschland die polnische Entscheidung, seine Sicherheit in einem gemeinsamen Bündnis mit uns zu suchen, nicht von russischer Zustimmung abhängig machen darf. Mit der Zustimmung Rußlands muß man überhaupt nicht rechnen. Es ist eine Entscheidung, die die Nato und die Beitretenden zu treffen haben. Ein russisches Veto gibt es dabei nicht. Würde man einen Beitritt von einer Vereinbarung zwischen Rußland und der Nato im Sinne einer condidtio sine qua non abhängig machen, würde man den Schlüssel aus der Hand geben. Es ist zudem naiv anzunehmen, daß man eine russische Zustimmung zu der Osterweiterung erhalten wird. Damit wäre Rußland überfordert.
Wenn man Rußland eine solche Zustimmung nicht abverlangen kann, wie lautet dann ein realistisches Verhandlungsergebnis?
Es reicht, wenn Beitritte und Sicherheitspartnerschaft gleichzeitig realisiert werden.
Wo wird letztendlich die Ostgrenze der Nato verlaufen, und wann ist sie erreicht?
Ich kann diese Frage nicht beantworten. Ich will sie auch nicht beantworten, weil ich will, daß der Prozeß offen bleibt. Deshalb bin ich dagegen, nach der ersten Gruppe ein Moratorium einzulegen. Ich bin sogar dagegen, daß die erste Gruppe nur aus Tschechien, Polen und Ungarn besteht.
Wer soll dazu kommen?
Slowenien erfüllt leicht alle Anforderungen. Schwieriger ist es mit der Slowakei. Die Slowakei ist aufgrund der Politik Meciars zum Außenseiter in Mitteleuropa geworden. Was passiert, wenn man das Land isoliert? Alle Nachbarn, auch die slowakischen Sozialdemokraten sagen: Tut das nicht. Das würde nämlich gerade nicht, wie die Amerikaner es erwarten, das Regime Meciar destabilisieren.
Würden diese beiden auch noch dazu kommen, würde der Notwendigkeit, die KSE-Regelungen zu ändern, noch größer werden. Die Bundesregierung hat bereits verkündet, daß sie am Ist-Zustand des Vertrages festhalten will.
Da unterscheiden wir uns ganz erheblich von der Bundesregierung. Wir haben im konventionellen Bereich eine nicht vertretbare Überrüstung in Europa. Mit der Sicherheitslage läßt sich in keiner Weise eine derartige Streitkräftekonzentration begründen. Es gibt zur Zeit keine Bedrohung von außen. Wir sind mit regionalen Konflikten konfrontiert, darunter schwersten Konflikten wie in Bosnien. Aber die verlangen nicht die Präsenz von über drei Millionen Soldaten in Europa.
Was bedeutet das für die Bundeswehr?
Die ist in ihrer aktuellen Größe nicht mehr haltbar. Sie ist, nebenbei gesagt, auch nicht mehr finanzierbar. Das will die Bundesregierung nur nicht zugeben. Sie hält wider besseren Wissens am bestehenden Streitkräfteumfang fest und prescht von daher auch nicht mit Abrüstungsvorschlägen vor. Man kann die Bundeswehr deutlich reduzieren.
Wie deutlich?
Deutlich unter dreihunderttausend Mann.
Dann brauchen sie keine Wehrpflichtarmee mehr.
Wenn man will, läßt sich die Wehrpflicht auch bei einem deutlich geringeren Bundeswehr-Umfang halten.
In der SPD wird aber auch schon an eine Berufsarmee gedacht.
Das Thema ist in der SPD nicht einfach zu diskutieren. Die Frage ist, bis zu welcher Untergrenze ist die Wehrpflicht sinnvoll. Die SPD will an der Wehrpflicht festhalten, solange es geht, sie darf aber einer Verringerung des Streitkräfteumfanges nicht im Wege stehen.
Auch wenn die Landesverteidigung nicht mehr die vordringliche Aufgabe ist?
Genau das erlaubt es, die Frage recht unverkrampft anzugehen. Im übrigen bleibt Landesverteidigung im Sinne der Risikovorsorge notwendig.
Sie sollen diese reduzierte Bundeswehr aufgehen lassen in eine integrierte europäische Streitmacht.
Das ist allerdings eine längerfristige Perspektive. Wir wollen eine fortschreitende europäische Integration. Darunter verstehen wir nicht nur eine räumliche Ausdehnung, sondern auch eine Vergemeinschaftung der Politik – auch der Außen- und der Verteidigungspolitik.
Gehören zu den Aufgaben einer solchen integrierten Streitmacht auch Krisenbewältigung und friedenserzwingende Maßnahmen?
Wir reden nur von der Übernahme der sogenannten Petersberg-Aufgaben, und wir wollen die Integration der WEU in die Europäische Union. Wir werden dabei wohl keine klinisch saubere Lösung der europäischen Sicherheitsarchitektur erreichen.
Rudolf Scharping sieht in der Nato-Politik einen Gleichklang zur Bundesregierung.
Wir stellen die Nato nicht zur Disposition. Wir haben eine pragmatische Position, die die langfristigen Ziele der SPD auf dem Felde der Sicherheit nicht aus dem Auge verliert. Die Unterschiede zur Bundesregierung liegen in Einzelpunkten wie der Stärkung der OSZE oder der Entwicklung von Modellen zur Konfliktprävention.
Die Grünen lehnen die Nato und die Osterweiterung ab. Gibt es trotzdem genug sicherheitspolitische Gemeinsamkeit für eine mögliche rot-grüne Regierung 1998?
Ja. Denn die Grünen werden die Fakten, die bis dahin geschaffen wurden, nicht mehr verändern können und vielleicht auch nicht mehr verändern wollen.
Interview: Dieter Rulff
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