Mein wunderbarer Trauerkloß

Schmerz, Verlust und all that folk: Beth Orton macht Lieder von der dunklen Seite des Lebens. Depressiv ist sie aber „nicht wirklich“. Allerdings sollte sie auf der Bühne lieber zur Beat-Box statt zu gepflegten Streichern greifen  ■ Von Jörg Feyer

Die britische Musik-Wochenpresse hat systembedingt einfach zu viele zweitklassige Hypes produziert, als daß man ihr noch einen Vertrauensbonus einräumen könnte. Um so besser also, daß „Trailer Park“, das Debütalbum von Beth Orton, zunächst (fast) ohne publizistischen Begleitschutz daherkam – und die Erkenntnis, etwas Besonderes, zumindest Überdurchschnittliches gehört zu haben, sich erst später im assoziationsreichen Wortschwall der KollegInnen von der Insel brach. Die hofieren die 26jährige Sängerin und Songschreiberin aus Norwich als „90's Joni Mitchell“ und „chilled out Joan Baez“, als „the late Nick Drake (...) in dub“ und „Nico (...) minus the teutonic drone“, als „Troubadour auf dem Trip“ und „modern minstrel“.

Obwohl sich darüber im Einzelfall trefflich streiten ließe: Die schmale Orton ist vor allem eine paradoxe Erscheinung – eine Folksängerin ohne Geschichte nämlich. Nie ist sie mit einer Gitarre durch die einschlägigen Klubs getingelt und hat sich dabei in Traditionals geübt. Orton: „Ich war mir, als ich die Platte machte, schon sehr bewußt, daß ich eigentlich keine Geschichte habe, zumindest nicht in dieser Hinsicht. Also versuchte ich, das Handwerk zu lernen und zurückzugehen zur Quelle, zum Kern.“ Wäre sie in den USA geboren, mutmaßt Orton, wäre „ich vielleicht beim Blues gelandet“. Doch in England liege „Folk nun mal näher“.

Dennoch: Die Hypothek des Purismus lastet nicht auf Orton. Weshalb sie für „Trailer Park“ kurzentschlossen Wege gehen konnte, die andere von vornherein als nicht gangbar abqualifiziert hätten. Ihre Stärke und die der eingeführten Produzenten Victor Van Vugt (Tindersticks, Nick Cave, Walkabouts) und Andrew Weatherall (Primal Scream) liegt vor allem darin, daß sie die Songs nicht partout in ein Soundkonzept zu zwängen versuchten. So (be-)steht die streng-morbide Klassikernachlese (das supertraurige Ronettes-Cover „I Wish I Never Saw The Sunshine“) ganz souverän neben lichtem Folkpop („How Far“, „Live As You Dream“) und den weit ausholenden TripHop-Klangräumen von „Tangent“ und „Touch Me With Your Love“, in denen ihr lakonischer Gesang verloren wirken muß. Und doch Präsenz und Tiefe entwickeln kann, statt nur, wie in dieser Konstellation üblich, als icing on the cake funktionalisiert zu werden. Fragt sich nur: Welche Vorgeschichte hat so ein Album?

Ihre Adoleszenz in der mittelostenglischen Provinzmetropole Norwich hat Beth Orton jedenfalls nicht geliebt. In einem „männlich dominierten“ Haushalt wollten die beiden Brüder partout „Rock'n'Roll-Stars (Orton) werden, während ihr wegen „Furcht und mangelndem Bewußtsein“ immer nur die Zuschauerbank blieb. Und die Flucht in alkoholisierte Langeweile. Und die Plattenwelt von Neil Young, John Martyn, Rickie Lee Jones, Nick Drake, später auch Primal Scream und Stone Roses. Ortons kreatives Coming- out kam einige Jahre später denn auch auf einem Terrain, das gleich in zweierlei Hinsicht unbelastet war: In London spielte sie zunächst improvisiertes Off-Theater. Bis sie von Dance-Papst William Orbit, der Orton in einer Aufführung über das Leben von Rimbaud gesehen hatte, gebeten wurde, doch einen Track für sein Projekt Spill zu singen – passenderweise ein Cover des von ihr verehrten Folksongwriters John Martyn („Don't Wanna Know About Evil“). Es folgten weitere Vocal- und dann auch Songbeiträge für Dance/ Techno-Acts wie Orbits Strange Cargo, Red Snapper und die Chemical Brothers.

Tja, und „zwischendurch“ gab's dann noch diese Geschichte, die ebensogut der Bibel wie einer gewieften PR-Abteilung wie einem Drehbuchseminar entsprungen sein könnte. Beth Orton erblindete nämlich vorübergehend, fast einen Monat lang. Die Mediziner rätselten vergeblich. „Das war auch eine interessante Erfahrung“, sagt Orton. „Zumindest im Rückblick. Als es passierte, war es natürlich schrecklich. Vor allem diese Ungewißheit, ob ich je wieder würde sehen können. Aber ich sag' dir was: Musik klang in dieser Zeit einfach wunderbar!“

Es liegt nahe, in dieser traumatischen Episode auch einen Schlüssel zur emotionalen Klarheit von „Trailer Park“ zu suchen. So unter dem Motto: Wer einmal auf der dunklen Seite zu Hause war, sieht das Licht mit anderen Augen. Dabei ist es vor allem Distanz, die sie gegen Larmoyanz feit. Beth Orton sagt, sie schreibe traurige Songs wie „She Cries Your Name“ selbst und gerade dann, wenn sie sich eigentlich ganz wohl fühle. Natürlich vermuteten viele Leute, die ihre Songs gehört hatten: „Oh, bist du eine traurige Gestalt? Und ich sage: Nein, nicht wirklich. Ich sehe nur Dinge um mich herum. Und manchmal denke ich, ich sehe zuviel. Ich will auch keine Märtyrerin sein. Aber irgendwer muß diese Songs singen. Und ich habe mich eben entschieden, das zu tun.“

Auf der Bühne allerdings kann Orton die Erwartungen, die sie mit „Trailer Park“ geweckt hat, einstweilen noch nicht erfüllen. Vor einigen Wochen, beim bisher einzigen Deutschlandauftritt im Hamburger „Knust“-Club, versickerten ihre Ambitionen im wohltönenden, leicht anämischen Folkpop- Teppich einer allzu braven Vier- Männer/Zwei-Frauen-Band. Vielleicht sollte sie beim nächsten Anlauf statt gepflegter Streicherinnen doch lieber eine Beat-Box einpacken, wenn sie Soundabenteuer wie „Galaxy Of Emptiness“ nicht länger in einer Galaxie der Langeweile verenden lassen will.

Beth Orton: „Trailer Park“ (Heavenly/Aris)