Press-Schlag: Irrsinn im Ring
■ Bizarre Geschehnisse umranken den WM-Boxkampf Lewis – McCall
Die Zuschauer im Las Vegas Hilton waren sich nicht ganz schlüssig, was da gerade vor ihren Augen passierte. Die einen glaubten, der „Atombulle“, wie Schwergewichtler Oliver McCall genannt wird, sei plötzlich vom Rinderwahn befallen worden, andere beschimpften ihn als Feigling, manche mutmaßten schnöde Schiebung. Schließlich heißt McCalls Manager zufälligerweise Don King. Offenkundig war, daß der 31jährige schon in der vierten Runde des WBC-Weltmeisterschaftskampfes gegen den gleichaltrigen Briten Lennox Lewis nicht mehr die Fähigkeit besaß, sich zu verteidigen. In den Rundenpausen stakste er mit gerunzelter Stirn und Tränen in den Augen durch den Ring, stammelte auf Nachfrage des Ringrichters jedoch: „Ich will kämpfen. Ich muß kämpfen.“ In der 5. Runde stand er mit hängenden Armen im Ring, drehte seinem Gegner den Rücken zu und ging einfach weg, während ihn der erzürnte Don King zum Kämpfen aufforderte. Nach 55 Sekunden wurde der „wiedergeborene Christ“, der vor dem Kampf in der Bibel und einem Buch von Jimmy Carter gelesen hatte, disqualifiziert.
Bild des Jammers: der disqualifizierte Oliver McCall Foto: AP
„Ich glaube, er hatte einen Nervenzusammenbruch“, sagte WBC-Präsident José Suleiman, der es gewohnt ist, nach Don Kings Pfeife zu tanzen, und letztlich einer der Hauptverantwortlichen dafür war, daß in Las Vegas ein Mann in den Ring geschickt wurde, der eindeutig nicht in der Verfassung war, einen Boxkampf zu bestreiten.
Nachdem McCall seinen Titel, den er 1994 durch einen K.o. in der zweiten Runde gegen Lewis gewann, im Herbst 1995 sang- und klanglos gegen Frank Bruno verloren hatte, machte er hauptsächlich durch seine Drogen- und Alkoholsucht sowie einige bizarre Eskapaden Schlagzeilen. Der 1,5-Millionen-Dollar-Scheck für den Bruno- Kampf, den er in eine seiner Socken gestopft hatte, wurde ihm des Nachts in einem üblen Viertel von St. Louis gestohlen. Er bekam ihn jedoch zurück, als die Räuber von der Polizei gestellt wurden. Im letzten Dezember randalierte er in einer Hotelhalle, warf mit Aschenbechern, Whiskygläsern sowie einem Weihnachtsbaum um sich und mußte den größten Teil der Vorbereitung für den Lewis- Fight unter Hausarrest in einer Drogenklinik in Nashville absolvieren.
„Don King hätte ihn niemals kämpfen lassen dürfen“, schimpfte Veranstalter Dino Duva. „Wir haben sechs Wochen lang versucht, Don dazu zu bringen, ihn zu ersetzen. Er war weder geistig noch körperlich in der Verfassung zu boxen.“ Ähnlich sah es auch McCalls Trainer George Benton: „Lewis war mit einem Irren im Ring.“ McCall habe bereits die ganze Woche wirr geredet.
Tags darauf hatte er sich jedoch erstaunlicherweise erholt. „Man hat mir nicht erlaubt, meinem Kampfplan zu folgen“, behauptete McCall auf einer Pressekonferenz. Er habe nur dasselbe tun wollen wie Muhammad Ali 1975 gegen George Foreman. In jedem Fall wolle er weiterboxen.
Das Titelkarussel bei den schweren Jungs des Boxens dreht sich auch ohne ihn weiter. Lewis, der nun jenen WBC-Titel gewonnen hat, den Mike Tyson niederlegte, muß diesen binnen 90 Tagen gegen Henry Akinwande verteidigen, der dafür seinen WBO-Titel niederlegt. Am 3. Mai streiten Tyson und Champ Evander Holyfield erneut um die WBA-Krone. Eine Titelvereinigung ist ferner denn je, und es müßte schon mit dem Teufel zugehen, wenn nicht irgendwann auch Axel Schulz wieder in einem WM- Fight auftaucht. Vielleicht sogar gegen Oliver McCall. Matti Lieske
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