: Opfer nur zufällig Ausländer?
■ Vor dem „Parlamentarischen Untersuchungsausschuß“ präsentierte der Chefermittler eine ganz neue Einschätzung Von Kai von Appen
Das hätte auch Deutschen passieren können. Die in dieser Woche bekanntgewordenen Folterungen von Ausländern auf dem Polizeirevier Kirchenallee stehen in keinem fremdenfeindlichen Zusammenhang. Zu dieser überraschenden Einschätzung verstieg sich gestern der zuständige Sonderermittler, Oberstaatsanwalt Martin Köhnke. Er wurde vom „Parlamentarischen Untersuchungsausschuß Polizei“ vernommen, der sich aus aktuellem Anlaß zu einer Sondersitzung traf.
Der Oberstaatsanwalt bestätigte, daß es seit September 1994 konkrete Hinweise über Mißhandlungen im Hauptbahnhof-Revier gegeben hat. Köhnke: „Festes Zugreifen gehört in diesem Revier zum Tagesgeschäft“.
Er berichtete von Ermittlungs-Schwierigkeiten. Nach dem Hackmann-Rücktritt seien die Vernehmungen fruchtlos verlaufen. Erst als die Ermittlungsgruppe am 23. September einen Vermerk der Konflikttrainer der Landespolizeischule erhielt, sei das Eis „dicker“ geworden. Durch die Vernehmung der Konflikttrainer sei man dann an den sogenannten „Kronzeugen“ gelangt. In einer 27stündigen Vernehmung habe dieser wichtige Details genannt.
„Fast täglich, für jedermann sichtbar, ist es zu Übergriffen gekommen.“ Köhnke: „Es passierten Dinge, die mit polizeilichen Handlungen nichts zu tun haben.“
Der Kronzeuge hatte wie berichtet, angegeben, daß Schwarzafrikaner mit Insektenspray in Zellen eingenebelt wurden. Eine beliebte Aktion wären auch sogenannte Reaktionsspiele gewesen. Der Beamte habe dem Afrikaner in die Augen geguckt: „Look in my eyes“, dann gab es links und rechts Ohrfeigen. Von den Scheinhinrichtungen habe der Kronzeuge nur vom Hörensagen gehört. Die Beschuldigten haben zu diesem Komplex die Aussage verweigert.
Inzwischen – nach fünf Monaten Ermittlung – haben sich laut Köhnke viele Erkenntnisse verdichtet. Mittlerweile hat die Ermittlungsgruppe 320 Zeugen und 70 Beschuldigte vernommen. Gegen zehn Beamte wird konkret wegen Körperverletzung im Amt, Nötigung und Freiheitsberaubung ermittelt. In zehn weiteren Fällen wird dem Vorwurf der Strafvereitelung im Amt nachgegangen. Köhnke: „Darunter auch gegen unseren Hauptzeugen. Denn es gibt vier Sachverhalte, wo er nichts unternommen hat.“
In seiner politischen Bewertung machte Köhnke vor allem die miesen Arbeitsbedingungen im Revier am Hauptbahnhof sowie die Hilflosigkeit der Beamten in der Drogenbekämpfung für die Übergriffe verantwortlich. Köhnke: „Ich möchte einmal die These aufstellen: Wenn es sich um Deutsche gehandelt hätte, wäre es nicht wesentlich anders verlaufen.“
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