: „Darf ich jetzt Amen sagen?“
■ Bruder Henning predigt eindringlich über die Austreibung der Menschen aus dem Paradies - findet Bürgermeister Scherf auf der Kanzel seine wahre Bestimmung?
In Amerika machen Evangelisten Politik. In Bremen ist das andersrum. Hier entdecken Politiker den besonderen Reiz der Kanzel. So geschehen am Dienstag abend in der evangelischen Kirche in Gröpelingen beim Gottesdienst der versammelten Polizei-Pastoren: Bruder Henning hebt die Augen flehentlich gen Himmel, spreizt den breiten Mund, ballt wie in großer Not die Fäuste. Sein langer Körper, vom zarten Pult kaum verdeckt, zuckt manchmal unter der Last der selbstgestellten Aufgabe: Nach der Vertreibung der Menschen aus dem Paradies den Weg aufrecht zu beschreiten.
Weise Worte, wie sie Bruder Henning spricht, findet auch dessen Alter ego, Senatspräsidenten Dr. Scherf gelegentlich, wenn er die Abgründe der bremischen Staatsfinanzen mit eindringlichen Durchhalteappellen überbrückt und als umarmender Tröster die Sorgen der Menschen auf sich lädt. „Wenn Sie hier für uns predigen, könnten wir ja mal für Sie das Regieren übernehmen“, hatte der Schriftführer der Bremischen Evangelischen Kirche, Louis Ferdinand von Zobeltitz, den Bürgermeister eingeführt.
Ein genialer Vorschlag. Denn wie der Laien-Prediger den Bogen schlug von Eva und der Schlange im Paradies über Nicaragua, Habermas, altlinke Utopien, den jüdischen Landesrabbiner und das Kirchenasyl hin zur Seelsorge für junge Polizeibeamte: Das war alle geistlichen Ehren wert. Unnötig war also des Bruders bescheidene Frage: „War das jetzt eine Predigt?“
Zwei „Menschheitstexte“ hatten die Profi-Pastoren dem Sozialdemokraten als Grundlage geliefert: Aus dem ersten Buch Mose die Geschichte, wie Eva von der Schlange verführt wird, vom verbotenen Baum zu essen, ihren unbescholtenen Adam mit in das ganze Schlamassel reinreißt, das schließlich auf die dornigen Äcker führt, die Adam als Herr der Eva künftig bestellen muß. Aus dem Matthäus-Evangelium war danach zu erfahren, wie Jesus den lockenden Versuchungen des Satans widerstand, obwohl er zuvor vierzig Tage in der Wüste gefastet hatte. Denn Gottes Sohn weiß: „Der Mensch lebt nicht vom Brot allein“.
„Irgendwie finde ich das ja gut, vom Baum der Erkenntnis essen zu wollen“, sprach also Bruder Henning in Erinnerung an die aufklärerischen Ansprüche seiner Partei. „Eva fällt ja nicht auf jemanden rein“, deutet Jurist Scherf das Wort: „Die will das“.
Also müßten die Menschen jetzt die Suppe auslöffeln, denn „die Freiheit ist ja der Beginn der Unfreiheit“. Der jüdische Landesrabbiner ( „Das ist ja auch für Juden ein fundamentaler Text“) habe ihm Formulierungshilfe gegeben: „Nach der Vertreibung aus dem Paradies beginnt die Aufgabe, unter selbstformuliertem Gesetz zu leben“. Immer wieder müßte man Rückschläge aushalten, so wie Henning Scherf aushalten mußte, daß nach Ende des Kalten Krieges nicht alle Soldaten Sozialarbeiter geworden sind und die Sandinisten in Nicaragua nicht den Garten Eden auf Erden geschaffen haben.
Trotzdem: Das Ziel sei, an einer besseren Welt weiterzuarbeiten, das zivile Leben „gemeinsam zu organisieren“, beschwor Scherf die Gemeinde. Das könne man doch jungen Beamten sagen, rief der Prediger den Polizei-Pastoren zu. Die Menschen müßten einsehen, daß sie vom Leben keine Trauminsel erwarten könnten. „Die Reklameversion der Welt ist doch albern“.
Bei Jürgen Habermas holte sich Scherf Zuspruch in schweren Stunden: Der Philosoph hatte von der Balance gesprochen, die es unter Einsatz der äußersten Kraft zwischen Rückschlägen und Fortschritten zu halten gelte. „Nach den Utopien kommt das zerbrechliche Projekt Zivilgesellschaft“, deutet Scherf den Gelehrten.
So ganz ohne Politik tritt Bruder Henning dann aber doch nicht ab. Er preist also das Kirchenasyl: Vom Mut der Menschen, die abgetauchte Asylbewerber versteckten, sei er „ergriffen“. Das wisse auch Herr Borttscheller, sein „gelegentlich populistischer Innensenator“. Und auch hier sei die „Balance“ das Ziel, zwischen den Forderungen des Rechts und der „großen Christentat“ Kirchenasyl. Offenbar läßt die Kanzel den Bürgermeister nicht los: „Wir könnten über einen Austausch reden“, sagte er zu Pastor Zobeltitz, der zu Beginn eine Übernahme der Regierungsgeschäfte angeboten hatte. Bruder Henning will sein Politiker-Leben ändern. Er werde nicht „die Tür zuhalten und dahinter Macht entfalten“, sondern rausgehen und die Menschen dazu bringen, die Dinge mitzutragen. So sei es, findet Bruder Henning: „Darf ich jetzt Amen sagen?“
Joachim Fahrun
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