: Die hilflose Wut der Nachgeborenen
■ „Mendel“ von Alexander Røsler im Panorama
Eigentlich ist „Mendel“ ein Film übers Erwachsenwerden, über die Zeit, in der einen noch nicht die ersten Pickel, aber dafür die ersten wichtigen Fragen plagen. Nur daß Mendel sich nicht für Mädchen interessiert, sondern für die Geschichte seiner Eltern, seiner Religion, seines Volks. Denn Mendel, geboren kurz nach dem Krieg, ist Jude.
Die Familie Trotzig wandert Anfang der 50er Jahre mit anderen Überlebenden des Holocausts nach Norwegen aus. Dort wird man mit Baldrian und Fischklößen, Deutschenhaß und sanftem Antisemitismus empfangen. Reibereien mit den Nachbarn sind an der Tagesordnung, weil die Trotzigs nicht gläubig sind. Sie essen nicht koscher, halten die Feiertage nicht ein, aber trotzdem schwebt über allem das Unausprechbare, das irgend etwas mit dem Jüdischsein zu tun haben muß. Etwas, was andere Umschreibungen finden muß in der Rede der Erwachsenen: „Sie haben uns weggebracht.“
Es ist kaum mehr als kindliche Neugier, aber Mendel möchte wissen, was hinter all den Andeutungen steckt, was die tätowierten Zahlen auf dem Unterarm von Herrn Freund zu bedeuten haben, warum Fotos aus dem Familienalbum fehlen, warum der Vater ein Buch versteckt. Auf seine Fragen bekommt er keine Antworten: „Dazu bist du noch zu klein.“ Aber Mendel will nicht warten, er will wissen. Also sucht und findet er das Buch, in dem das Unaussprechbare immerhin abgebildet ist. Mendel sucht in den Fotos von Leichenbergen, von Lagerinsassen nach Spuren seiner eigenen Geschichte. Mit der Lupe vergleicht er die Familienfotos mit den Fotos von der Massenvernichtung. Fotos und Phantasie verbinden sich bald zu einer neuen Identität: Nachts wird Mendel wie seine Eltern von Alpträumen heimgesucht, tagsüber wird er zum jüdischen Widerstandskämpfer, der es den Nazis schon gezeigt hätte. Und er fragt seinen Vater: „Warum habt ihr euch nicht gewehrt?“
Regisseur und Drehbuchautor Alexander Røsler, geboren 1947 in Dachau, wurde selbst als Kind umgesiedelt nach Norwegen. Bisher hat er Kinderfilme, Kurz- und Dokumentarfilme gemacht. „Mendel“ ist sein erster Spielfilm, und er ist ihm leider etwas holprig geraten. Die nachsynchronisierten deutschen Dialoge sind recht staksig. Und Hans Kremer als Mendels Vater wirkt etwas steif. Aber der Blick in Mendels Gesicht entschädigt für vieles: Denn dort steht sehr deutlich und wahrhaftig die Verwirrung geschrieben und die hilflose Wut der Nachgeborenen. Thomas Winkler
„Mendel“. N/Dk/D 1996, 98 Min., Regie & Buch: Alexander Røsler. Mit Thomas Jüngling Sørensen, Teresa Harder u.a.
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