: Das Motto heißt: „Wir gehen hin“
■ Nach dem Wahlsieg der Front National im südfranzösischen Vitrolles ist in Frankreich ein Kulturkampf entbrannt. Künstler gehen wieder auf die Straße
Frankreich in den Zeiten der Front National: Die einen stellen verstaubte Volksschauspieler aus der Zeit der Kollaboration auf Denkmalsockel, bestücken öffentliche Bücherhallen mit nationalrevolutionären Schriften und bekämpfen avantgardistische Theatermacher und Musiker mit den Mitteln der Justiz und kürzen die Kulturbudgets. Die anderen zeigen sich kollektiv als Gesetzesbrecher an, postulieren den zivilen Ungehorsam gegen den Staat und seine Institutionen und demonstrieren gegen die Einschränkung der kreativen Freiheiten.
Begonnen hat es an jenem Tag im Juni 1995, da die Front National die Rathäuser von drei Städten im Midi eroberte – Orange, Toulon, Marignane –, als einige Kulturmacher in die Konfrontation gingen: Mehrere Theaterdirektoren in Toulon, Bibliothekare in Orange, Rap-Musiker aus den Vorstädten, ein paar Schriftsteller aus Paris – stets unterstützt vom französischen Kulturminister Philippe Douste- Blazy. 16 Monate lang blieben die Proteste isoliert. Massiv wurde die Bewegung erst in der vergangenen Woche. Da löste der triumphale vierte kommunale Wahlsieg der Rechtsextremen, ihr Einzug in das Rathaus der südfranzösischen Stadt Vitrolles, eine Lawine aus.
59 junge Filmemacher traten sie mit einer kollektiven Selbstanzeige los. „Wir haben Ausländer ohne Papiere beherbergt“, bekannten sie. Und: „Wir werden es wieder tun.“ Tags darauf folgte eine Gruppe von Filmschauspielern ihrem Beispiel. Inzwischen haben Theaterdirektoren, Schriftsteller, Journalisten, Psychoanalytiker, Forscher, Ärzte, Juristen etc. ihre Gegnerschaft zu einem Gesetzentwurf erklärt, der eine Meldepflicht für ausländische Gäste vorsieht. Ein „Aufruf zur Denunziation“, sagen die Unterzeichner.
Die Namen der ersten 10.000 Gesetzesbrecher erschienen auf den zentralen Seiten der liberalen Pariser Zeitungen. Sie lasen sich wie Telefonbücher. Am Samstag wollen alle Gesetzesbrecher gemeinsam in Paris demonstrieren. Ihr minimalistisches Motto: „Wir gehen hin.“
Die Rechtsextremen sind bei den neuen Massenprotesten nur das indirekte Ziel. Direkt richten sich die Künstler und Intellektuellen an die „republikanischen Parteien“, wie der Soziologe Edgar Morin, ebenfalls Unterzeichner einer Selbstanzeige, erklärt. Diejenigen – Linke wie Rechte –, die ihre „Glaubwürdigkeit verloren“ haben. Auch die von den neuen Ratsherren in Toulon drangsalierten Theatermacher richten ihre Proteste an die Pariser Republikaner. „Cháteauvallon – Staatsaffäre, Freiheitsaffäre“ stand auf dem zentralen Spruchband, das mehrere tausend prominente Demonstranten – darunter wieder der Kulturminister und zahlreiche international bekannte Künstler – in der vergangenen Woche durch die Mittelmeerstadt trugen. Sie protestierten gegen die fristlose Kündigung von Gérard Paquet, Gründer und Direktor der angesehensten Bühne der Stadt, das Tanztheater von Cháteauvallon.
Toulon lebt seit 16 Monaten in den Zeiten der Front National: Die neuen Ratsherren sagen über die Kultur, sie muß „populär“ und „verwurzelt“ sein, sie muß „Modernes mit Klassischem“ verbinden, und sie muß vor allem dem Geschmack der Bürger entsprechen. Dem Komiker und Filmschauspieler Raimu, der in den 40er Jahren aufs Innigste mit dem Regime von Vichy kollaborierte, widmeten sie im vergangenen Jahr zu seinem 50. Todestag einen eigenen Platz, eine Statue sowie einen Preis. Den für den jährlichen Bücherpreis vorgeschlagenen jüdischen Pariser Schriftsteller Marek Halter lud der Bürgermeister von Toulon als „inopportun“ wieder aus. Einen Auftritt der Rap- Gruppe „NTM“ – zu deutsch: Fick deine Mutter – verhinderte der Bürgermeister in Zusammenarbeit mit dem Präfekten. Das Theater von Cháteauvallon strich er komplett aus seinen Prospekten.
„Autoren, die uns wohlgesonnen sind, können gerne kommen“, erklärt der Kulturbeauftragte im Rathaus, Louis Soccoja, die Präferenzen der Front National. Der Schriftsteller Halter und der Theatermacher Paquet aber hätten seine Partei „beschimpft und beleidigt“ und gegen sie gekämpft.
Tatsächlich hat Paquet schon wenige Tage nach der Wahl der Rechtsextremen jede Zusammenarbeit mit dem Rathaus aufgekündigt. Er verzichtete auf die Subventionen, lehnte jedes Gespräch mit den Ratsherren ab und organisiert seine zugegeben avantgardistischen Programme selbst. Das reicht.
Der Kulturkampf ist nicht auf Toulon beschränkt. In Orange strichen die neuen Ratsherren afrikanische Märchen aus der Anschaffungsliste der Bibliothek, sie sparten auch die Subventionen für das internationale Festival „Choregies“ und führten eine „Woche der Schokolade“ ein. In Marignane kündigten sie die liberalen Tageszeitungen und legten rechtsextreme Kampfblätter in die Bibliothek. Allerorten brüsten sie sich mit Einsparungen im Kulturbudget.
Der Pariser Kulturminister Douste-Blazy hat sich in den Zeiten der Front National als machtlos entpuppt. Selbst in den eigenen Reihen ist er immer häufiger mit Leuten konfrontiert, die besser mit den Rechtsextremen als mit ihm zusammenarbeiten. Mit Hilfe eines neuen Gesetzes will der Kulturminister versuchen, den „Pluralismus in den Bilbliotheken“ sicherzustellen. Für den Theaterdirektor Paquet sah der Kulturminister keine andere Möglichkeit, als seinerseits auf die Straße zu gehen und Ausschau nach einer neuen Bühne zu halten. Dorothea Hahn
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