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Vom Verfall des Verfalls

Makaber und moralin – die Katharsis findet unterhalb der Gürtellinie statt: Im Werkraum der Münchner Kammerspiele wurde Wladimir Sorokins Stück „Pelmeni“ in der Regie von Peter Wittenberg erstaufgeführt  ■ Von Vera Botterbusch

Es beginnt ganz harmlos. In der ärmlichen Küche der Iwanows werden Pelmeni zubereitet, ein russisches Nationalgericht: mit Hackfleisch gefüllte Teigtaschen, in Brühe gekocht. Geschäftig hantiert Iwanowa mit Teig und Nudelrolle, während ihr Mann Iwanow die Zeitung liest und sich beide über das Wetter und die endlich bestraften Schmiergeldspitzbuben auslassen.

Russischer Alltag pur, in Puschen und wollenen Unterhosen, während draußen Väterchen Frost das Kraut im Faß frieren läßt. Doch die Idylle trügt. Iwanowa, mit grauem Zopf und jungmädchenhaftem Charme, ist geradezu übereifrig um die gute Laune des Alten bemüht. Der, ganz ehemaliger Fähnrich mit dem roten Stern an der Pelzmütze, ist Befehle gewohnt und gewohnt zu befehlen. Lustvoll dreht er das Fleisch durch den Wolf und stellt die Pelmeni wie Rekruten auf. „Nasdarowje, es lebe die Sowjetunion!“

Der Mensch ist dem Menschen ein Spitzel

Doch dann kippt die Sache. Wohl nicht zum erstenmal. Der Wodka, vor dem es Iwanowa graust, setzt in Iwanow die Bestie frei. Der Mensch ist dem Menschen ein Wolf – oder ein Spitzel. Ihre Küche wird den Iwanows zum Gulag. Hier sind sie Opfer und Täter. Iwanow mutiert zum geifernden Monster, süchtig nach dem Ritual von Gewalt und Lust. Heide von Strombeck und Rudolf Wessely spielen diesen Sado-Maso-Akt menschlicher Entgleisung mit jenem Wissen um die psychischen Hintergründe ihrer Perversion, das ihnen einen Rest an Menschenwürde läßt. Das Gesellschaftstier im Käfig seiner Traumata.

Doch Wladimir Sorokin wäre nicht Sorokin, der Komet am Moskauer Literatenhimmel, würde er sich in die Tiefe menschlicher Untiefen begeben. Ihn interessiert der Spot auf den Verfall des Verfalls, den Niedergang seiner russischen Heimat. Er liebt die Konturierung einer immer wieder anders korrupten Gesellschaft, die nun, nach der Auflösung der Sowjetunion und der grundsätzlichen Infragestellung der kommunistischen Idee, im Kampf ums schiere Überleben vor dem Verlust aller Werte steht, nach dem Motto: „Tu das Böse, und du wirst sehen, wie leicht dir auf einmal wird“ (Sartre).

So schlägt die anfängliche Reminiszenz an das aus der russischen Literatur bekannte Arme-Leute- Idyll nicht nur schnell in den alltäglichen Wahnsinn der geschundenen Kreatur um, sondern wird dann mit wenigen Tupfern in ein undurchdringliches Macht-und- Ohnmacht-Spiel à la Sowjet verwandelt.

Der 36jährige Regisseur Peter Wittenberg (der erstmals an den Münchner Kammerspielen inszeniert) und sein Bühnenbildner Sascha Groß sind den Angaben des Autors recht genau gefolgt und haben eine trostlose Mischung aus Garderobe, Abstellkammer, Arztzimmer und Verhörstube geschaffen, mit einem abgetakelten Sowjettransparent und einem ausrangierten Zahnarztstuhl.

So stellt man sich jene schäbigen Hinterzimmer der Partei vor, wo gemauschelt und konspiriert wurde, bis unerklärlicherweise Genosse X in den Akten einer wohlfunktionierenden Bürokratie so verschwand, daß man ihn auch realiter unbemerkt eliminieren konnte.

Aus Profitgier und Überlebensdrang

Ein „Mann mit Brille“, von Michael König mit wieselnder Schleimigkeit als geschäftiger Opportunist gespielt, steht im Zentrum einer beklemmend realitätsnahen Amtssituation, in der die Iwanows eine Funktion übernehmen: Iwanowa in der Uniform eines sowjetischen Obersts, Iwanow als ihr geschniegelter Adlatus. Wichtige Entscheidungen stehen an, Unterschriften, die über vielerlei, auch über Menschenleben entscheiden. Auch hier führt Sorokin zugespitzt den Wahnsinn menschlicher Perversion vor. Aus Profitgier und Überlebensdrang verrät, ja verkauft der Mensch die sprichwörtlich eigene Großmutter – hier die Schwester.

Um noch eins draufzusetzen, wird der „Mann mit Brille“, dieses um seinen Vorteil winselnde perverse Menschenschwein, zu einem Riesenpelmen verbacken. Eine herrliche Slapstick-Einlage, wie die sechs Köche ihr Teilballett aufführen und den heftig zappelnden menschlichen Fleischkloß in den Teig einrollen. Makaber und moralin. So kann's gehen – im Märchen oder im russischen Alltag.

Doch Sorokin hat immer noch nicht genug und rundet seine schaurige Moritat mit einem kannibalistischen Finale ab. Was kann sich wohl ein Neureicher als besonders delikates Häppchen für seine im ungewohnten Luxus ausflippende Geliebte wünschen? Einen mit Menschenfleisch gefüllten Pelmen vielleicht? Und weil alles im Orkus und Sodom und Gomorrha ausgebrochen ist, serviert man am besten gleich den Vater.

Stefan Hunstein als Mark und Anna Schudt als Natascha liefern in ihrem schnieken Separée ein orgiastisches Potpourri des Sittenverfalls. Lüstern knabbern sie am Menschenfleisch, hemmungslos stopfen und würgen sie, hilflos in ihrer Sucht und Gier nach mehr. Zum Schluß, wie in einer Umkehrung des Anfangs, wo Iwanow seinen Pißpott über dem gebeugten Haupt von Iwanowa ausgießt (was für eine Taufe!), uriniert Natascha auf den blanken Arsch Marks, um anschließend das gebackene Haupt ihres Vaters zu flambieren.

Dem Zuschauer ist der Appetit vergangen angesichts dieser ausufernden Soz-Art-Groteske. Sorokin provoziert in seinem neuen Stück wieder durch Perversion und Unmenschlichkeit. Im Schlüpfrig- Absurden gedeihen seine Obsessionen. Die Katharsis findet unterhalb der Gürtellinie statt. Endzeit ist angesagt. Das Dasein – frei nach Sartre – eine klebrige Marmelade. Oder: Die Hölle, das sind wir. Sozialistisch, kapitalistisch, anarchisch oder postmodern. Wie auch immer. So gesehen ist Sorokin ein Aufklärer und Humanist.

„Pelmeni“. Von Wladimir Sorokin. Regie: Peter Wittenberg. Bühne: Sascha Groß. Mit Stefan Hunstein, Michael König, Heide von Strombeck, Rudolf Wessely u.a., Münchner Kammerspiele

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