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Der große Bluff: Bagdad bastelt weiter

Der Irak soll die UNO über die tatsächlichen Ausmaße seines Rüstungsprogramms getäuscht haben  ■ Von Georg Baltissen

Berlin (taz) – Der Irak steht im Verdacht, eine Rakete entwickeln zu können, die hochgiftiges Nervengas auch über weite Gebiete Europas verteilen könnte. Das Land baue an einer Rakete, die eine Reichweite von 3.000 Kilometer habe, berichteten Mitglieder der UN-Sonderkommission für die Abrüstung Iraks (Unscom) laut einer BBC-Meldung vom Donnerstag. Die Unscom-Inspektoren seien davon überzeugt, daß irakischen Waffenspezialisten die Herstellung eines Nervengases gelungen sei, das in Sprühbomben von Flugzeugen oder Raketensprengköpfen verteilt werden könnte. Dieses giftige Gas könne wie ein feiner Sprühnebel verteilt werden und schädige umgehend das Zentralnervensystem, wenn die Menschen es einatmeten, sagte Paul Rogers, Friedensforscher an der englischen Bradford-Universität.

Der UN-Sonderbeauftragte Rolf Ekeus erklärte gegenüber der BBC, die Unscom-Inspektoren glaubten, daß Irak sie systematisch getäuscht habe und sie erst jetzt das ganze Ausmaß des irakischen Rüstungsprogramms entdeckten. „Wir sind davon überzeugt, daß die Produktion derzeit nicht fortgeführt wird, weil unsere Inspektoren alle Produktionsstätten überwachen“, erklärte er. Er befürchte jedoch, daß Irak weiterhin über alle Bausteine für die Waffenproduktion verfüge.

Den Verdacht, daß Irak weiterhin an der Produktion von Giftgasraketen arbeitet, hegen auch deutsche Sicherheitskreise. Nach Erkenntnissen eines hohen deutschen Sicherheitsexperten hält der Irak die Forscherteams, die für die Entwicklung von A-, B-, und C-Waffen gebildet wurden, auch weiterhin zusammen. Ihr Auftrag sei es derzeit, sich auf den neuesten Stand der Technik und der Forschung zu bringen. Als ein „regionales Sicherheitsrisiko“ bezeichnete der deutsche Sicherheitsexperte den Bau von sogenannten „Drohnen“. Diese unbemannten Flugobjekte könnten biologische und chemische Waffen transportieren. Die Drohnen, die eine Reichweite von 700 Kilometern hätten und eine Nutzlast von 30 bis 40 Kilogramm tragen könnten, könnten auch aus Sperrholz hergestellt werden. Sie seien für das gegnerische Radar praktisch nicht mehr zu orten. Der Sicherheitsexperte verwies ferner darauf, daß von 10.000 Teilen einer Gaszentrifugen-Anlage, die für den Bau von chemischen Waffen benötigt werden, derzeit erst 3.000 von UN-Inspekteuren gefunden worden seien.

Gemäß einer UN-Resolution von 1991 ist Irak zur Vernichtung aller nuklearen, chemischen und biologischen Waffen sowie aller Trägerraketen mit einer Reichweite von über 150 Kilometern verpflichtet. Erst vor drei Monaten hatte die UNO das Embargo gegenüber dem Irak gelockert und den Verkauf von Öl erlaubt. Einen Teil der Erlöse darf der Irak unter UN-Aufsicht zum Kauf von Lebensmitteln und Medikamenten verwenden, der andere Teil in Höhe von 30 Prozent geht an den UN-Kompensationsfonds für die Schäden des vor sechs Jahren beendeten Golfkrieges. Noch in diesem Monat will der Entschädigungsfonds erste Zahlungen an die Opfer des Krieges vornehmen. Gastarbeiter, die den Irak oder Kuwait bei Kriegsausbruch verlassen mußten, sowie Personen, die kriegsbedingte Verluste bis zu 100.000 Dollar erlitten, erhalten eine erste Zahlung in Höhe von 2.500 Dollar.

Nach einem viertägigen Besuch im Irak hat der Chef der Weltgesundheitsorganisation (WHO), Hiroshi Nakajima, am Donnerstag in Genf erklärt, das Gesundheitswesen im Irak stünde vor dem Zusammenbruch. Es herrsche ein erheblicher Mangel an Medikamenten und Ersatzteilen für medizinische Geräte. Typhus und Malaria breiteten sich wieder aus. Die WHO überwacht im Irak die Verteilung von Medikamenten und medizinischen Geräten im Wert von gut 350 Millionen Mark.

Laut UN-Generalsekretär Kofi Annan wird die UNO in der kommenden Woche die Auslieferung von Medikamenten und Lebensmitteln fortsetzen, die dem Irak laut dem Abkommen mit den Vereinten Nationen zustehen.

Am Montag tritt der UN-Sicherheitsrat zusammen, um über eine generelle Aufhebung des Embargos gegen Irak zu beraten. Damit wird aber nicht gerechnet.

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