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Populäres Zugpferd im Kreml

■ Mit der Ernennung von Boris Nemzow zum Vizepremier ist die Umbildung der Regierung in Moskau beendet. Premier Tschernomyrdin knirscht mit den Zähnen

Moskau (taz) – Bei all seinen Fernseh-Erklärungen in letzter Zeit hatte der russische Präsident Boris Jelzin verschlossen und trotzig dreingeblickt. Am Montag abend strahlte er plötzlich wie die Sonne selbst und allen war klar, daß er diesen Auftritt selbst initiiert hatte und diesmal eine ureigene Idee präsentierte: die Ernennung Boris Nemzows zum zweiten „ersten Vizepremier“ neben Anatoli Tschubais.

Mit dieser Entscheidung hat die Umbildung der russischen Regirung vorerst ein Ende gefunden. Wie Jelzin versprach, sieht sie jetzt stromlinienförmiger aus, ein Drittel (nämlich drei) der bisherigen Stellvertreterposten des Premiers und eine ganze Reihe von Ministerien für diverse Industriezweige wurden ersatzlos eingespart. Dafür hat man den beiden neuen Zugpferden der Reform in der Regierung doppelt und dreifach Lasten aufgebürdet. Nemzow wird zuständig für Wohlfahrt, soziale Fragen und für die Beziehungen zwischen Moskau und den Regionen. Die letztere Funktion ist übrigens in der neuen Regierung doppelt besetzt. Als neuer Minister für diesen Bereich tritt ein anderer, gestandener Lokalpolitiker an: der bisherige Bürgermeister der Stadt Samara, Oleg Sysujew. Und Anatoli Tschubais wird künftig auch noch die Verantwortung für die Finanzpolitik aufgebürdet.

Angesichts dieser Funktionsausweitung der Vize-Premiers wurde das Finanzministerium gleich ganz gestrichen. Dessen bisheriger Inhaber, Alexander Lischwitz, mußte genau wie Wirtschaftsminister Jewgeni Jassin gehen. Die beiden überzeugten Liberalen wurden trotz allen erklärten guten Willens mit Problemen wie der chronischen Verspätung der Rentenzahlungen und den landesweit zurückgehaltenen Löhne nicht fertig. Zum neuen Wirtschaftsminister ist nun Jassins bisheriger Stellvertreter, Jakov Urinson, aufgestiegen. Und da wir schon bei der Wirtschaft sind: Zum neuen Privatisierungsminister ist nun Tschubais ehemaliger enger Mitarbeiter Alfred Koch aufgestiegen. Koch hat sich besonders während der letzten Privatisierungsphase im Volk unbeliebt gemacht, wo man ihm allerhand Mauscheleien nachsagte.

Anders als Tschubais und Koch wurde Nemzow in der Öffentlichkeit niemals mit unpopulären Reformen in Verbindung gebracht, noch sagt man ihm undurchsichtige Verbindungen zu Finanzkreisen nach. Dies war gewiß einer der Gründe dafür, daß ihn der Präsident das ganze letzte Wochenende lang hofierte, um ihn zum Eintritt in die Regierung zu bewegen. Mit einem derart populären Mann an der Spitze könnte es – zumindest eine Zeitlang – möglich sein, auch unpopuläre Maßnahmen durchzusetzen.

Nur in den sogenannten Macht- Ministerien blieb – zumindest von außen betrachtet – alles beim alten. Verteidigungsminister Rodionow behielt seinen Posten ebenso wie Innenminister Kulikow, dessen Behörde in letzter Zeit im Zentrum erbitterter Presse- und Fernsehkritik stand. Allerdings haben gerade diese Diskussionen in weiten Kreisen zu der Einsicht geführt, daß der in den letzten Jahren vielfach umorganisierten Polizei kaum mehr Personalveränderungen an der Spitze helfen können, sondern nur noch eine strikte Säuberung und Umorganisierung ihres Apparates von Grund auf.

Anders als Jelzin verlas Ministerpräsident Tschernomyrdin die Liste der neuen Regierungsmitglieder vor der Kamera mit zusammengebissenen Zähnen, wie eine Geisel ihren vorbereiteten Text vor der unsichtbaren Revolvermündung von Terroristen. Besonders wenig behagen kann es dem Ministerpräsidenten, daß Nemzow auch noch die Oberhohheit über die Verwaltung der „natürlichen Monopole“ erhalten hat. Als ehemaliger Chef des Erdgas-Monopolisten Gasprom hat Tschernomyrdin immer noch ein paar Aktien dieser Gesellschaft im Schrank und hält nichts von ökonomischer Konkurrenz auf diesem Gebiet. Barbara Kerneck

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