Eine wunderliche Romanze in Mull

Wie sich Jakob Scheinowiz und Tonja Kruzki nach dem Krieg vorsichtig ein neues Leben bastelten und ihre Nachkommen zu Agenten und Flagellanten werden: Doron Rabinovicis surrealer Wiener Gesellschaftskrimi „Suche nach M.“  ■ Von Petra Kohse

Da geht einer durch die Straßen von Wien, von Kopf bis Fuß in Mull gewickelt, und sondert Geständnisse ab. Zeig ihm den Mann, und er nennt dir sein Verbrechen. Wobei er den Hergang der Tat so erzählt, als ob er selbst sie begangen hätte. Und immer schließt er mit den Worten: „Ich war's, ich bin's gewesen. Ich bin schuld.“ Keine schöne Vorstellung.

Ein anderer beschränkt sich nicht auf eine Stadt, sondern reist durch die Welt. Auch sucht er nicht nach Schuld, sondern nach Schuldigen. Nenn ihm das Verbrechen, und er zeigt dir den Mann. Indem er, plötzlichen Eingebungen folgend, seine Haltung verändert, sein Aussehen, seine Gewohnheiten – so lange, bis er seinem jeweiligen Ebenbild begegnet. Auch das ist einigermaßen gespenstisch.

„Suche nach M.“ nennt Doron Rabinovici seinen Roman, der mit mystischen und kriminologischen Elementen ebenso spielt wie mit einer Menge anderer Genre-Versatzstücke. Familiengeschichte, Psychogramm, Satire, surrealer Gesellschaftsroman, literarische Reportage – in zwölf Kapiteln baut der Autor seine Geschichte als Puzzle zusammen.

Es beginnt in den 60er Jahren in Wien, mit einer doppelten Verwechslung und einer Gemeinheit. Jakob Scheinowiz trifft in seinem Stammlokal regelmäßig einen alten Mann, der ihn für einen Buchdrucker namens Adam Kruzki hält. Eines Tages nun lernt Scheinowiz bei Freunden eine Frau kennen, die, wie er, aus Krakau stammt und Tonja Kruzki heißt, was er allerdings nicht weiß. Sie hält ihn spontan für ihren Mann, den sie noch vor beider Abtransport ins Lager wegen eines anderen verlassen hat, und Scheinowiz läßt sie in dem Glauben. Einen näheren Kontakt aber lehnt er ab: „Wenn du nur durch Zufall zurückkommst, muß ich den Nazis dankbar sein, daß sie meinen Konkurrenten umgebracht haben.“ Und er geht.

Jakobs Frau und Tochter sind ermordet worden wie Adam Kruzki und Tonjas Liebhaber. Tonja, Tonjas Tochter und Jakob Scheinowiz haben überlebt. Der Zynismus, mit dem es Jakob auf die Verwechslung der Schicksale anlegt, wirkt um so perfider, als er, wie man später erfährt, nur überlebt hat, weil ihn auch die Nazis für Kruzki hielten: Einen Buchdrucker konnten sie noch brauchen.

Doron Rabinovici, ein in Tel Aviv geborener und in Wien lebender 36jähriger Historiker, der 1994 schon einen Band mit Erzählungen veröffentlichte, spielt in seinem Roman zwei Lebensentwürfe von Überlebenden des Holocaust durch, die, so unvereinbar sie scheinen, für ihn doch zusammengehören, was er durch die groteske Zeichnung der jeweiligen Nachkommen deutlich macht.

Jakob Scheinowiz, der den Kontakt zu anderen Überlebenden eher meidet und dem es vor „Ehen zweisamen Leids“ graust, heiratet später eine sehr viel jüngere Frau, mit der er einen Sohn hat, Arieh. Vom Holocaust erzählt er ihm nichts, und als Arieh irgendwann mit Stiefeln und Bürstenschnitt erscheint, sagt Jakob: „Besser mit Stiefeln als getreten werden.“

Tonja hingegen zieht zu ihrer Tochter, und sie hilft, den Enkel aufzuziehen, Dani. Vom Holocaust schweigen sie betreten, pflegen aber jüdische Traditionen, und aus dem Stolz der Familie wird ein Wunderling, der immer weiß, welche Streiche die anderen Jungs vorhaben, und nachher die Schuld auf sich nimmt, nicht wissend, ob er der „Prophet oder der Stichwortgeber der Bande war“.

Arieh zieht nach Israel und wird der Geheimagent Arthur Bein, aus Dani wird ein Verrückter, der sich Mullemann nennt und ganz Wien mit seinen Geständnissen terrorisiert. Zwei, die sich wahnhaft mit Tätern identifizieren: ein Rächer und ein Schmerzensmann. Ohne Sentimentalität markiert der Autor den Orbit, auf dem die Söhne in ihrem Schuldkosmos kreisen. Daß das jeweilige Schweigen der Eltern sie dorthin geschickt hat, daß sich deren Passivität in der Aktivität der Söhne spiegelt, wie diese sich gegenseitig spiegeln, konstatiert Rabinovici, bläht diesen behaupteten Wirkungszusammenhang aber nicht zum historisch-soziologischen Konstrukt auf, sondern relativiert ihn durch Witz.

Am Ende ist Mullemann entdeckt, gefangen und identifiziert, und ein übergewichtiger Kommissar zieht ihn zum Arbeitsdienst heran. Im Akkord zwingt er ungeständige Verdächtige durch sein Geständnis zum Gestehen. Mullemann wird ein Star, gesteht live vor internationalen Fernsehkameras, und seine Eltern, die Morgenthaus, platzen vor Stolz.

Arieh indessen sitzt in seiner Wohnung in Tel Aviv, hat seinen Job aufgegeben und schreibt, während des Golfkrieges, sorgenvolle Briefe an Dani Morgenthau. Im letzten rät er ihm, abzuhauen und zu Sina Mohn zu gehen, einer Kunsthistorikerin, die ihn bei sich aufgenommen hatte, bevor ihn die Polizei entdeckte. „Und falls sie Dir eines Tages eröffnen sollte, daß sie schwanger ist, dann kannst Du ja Deine Zauberformel sprechen [...], Dein ,Ich bin's‘ sagen.“

Keine zwei Seiten später verläßt Mullemann das Gefängnis von Berlin-Moabit durch den Diensteingang. „Kein Wärter wagte, den berühmten Vermummten nach einem Passierschein zu fragen. Niemand hielt ihn auf.“

So gibt es am Ende nach all den Verwicklungen eine Entwicklung: Das Private siegt über das Politische und das Weiterleben über das Überleben.

Doron Rabinovici: „Suche nach M.“, Suhrkamp, 269 S., 36 DM