: Gleich im Müll
■ Reste körperlicher Existenz: Das Karl Ernst Osthaus-Museum in Hagen zeigt eine Retrospektive mit Arbeiten des amerikanischen Aids-Aktivisten Dui Seid
Ein auseinanderklaffendes Dreieck aus überdimensionalen Knochen und Fleischfetzen stemmt eine Tür gen Himmel. Die 1988 entstandene Skulptur „U-Brace Against The Door“ stammt von dem US-amerikanischen Künstler Dui Seid. Fleisch, Knochen, genetisches Material – das sind die Materialien, mit denen sich der 1945 in Greenville, Mississippi, geborene Wahl-New-Yorker beschäftigt. „Artist's Estate – Aus dem Besitz des Künstlers“ ist seine erste Einzelausstellung in Deutschland. Die nachgeformten Reste körperlicher Existenz sollen eine verschlossene Tür mit Gewalt auftreten. Für Seid ist es der Kampf gegen das Schweigen über die physische Wirklichkeit von Aidskranken. Denn der Körper scheint in Amerika hinter allem Gesundheitsfetischismus zu verschwinden.
Seit über zehn Jahren kümmert sich Seid um aidskranke Freunde. Dabei stellte er fest, daß das Leiden der Betroffenen eher weggeschwiegen wurde, obwohl so viel über die Krankheit geredet und geschrieben worden war. Der Titel der Ausstellung benennt gleichzeitig ein zentrales Werk, das sich mit diesem Widerspruch auseinandersetzt: Im Lichthof des Museums schuf der Künstler einen Sakralraum. „Wenn Menschen sterben, dann verschwinden die meisten aus dem Gedächtnis. Der Normalsterbliche hat keinen Anspruch auf Ewigkeit“, kommentiert er.
Jetzt ist der Raum mit einem kegelförmigen Berg aus Kleidung, Gerümpel und all den Dingen gefüllt, die sich im Haushalt finden. Zugleich ist die Installation in Segmente aufgeteilt, die verschiedenen Gesellschaftsgruppen gewidmet sind. Da sind die Dinge aus einer typischen Kleinfamilie: Weihnachtsbaum, Spielzeug, Krimskrams; daneben Künstlersachen, Sexmagazine, Medizinabfälle – ein Spiegelbild der postindustriellen Gesellschaft. Im Müll sind alle gleich, so die große Haushaltsauflösung von Seid. Zugleich ist aus dem medizinischen Abfall an den umlaufenden Wänden sechsmal das Wort AIDS nachgebildet worden. Die Abkürzung wird jeweils in Begriffe aufgelöst, die sich mit den vier Buchstaben verknüpfen lassen und etwas über die Befindlichkeiten eines Erkrankten aussagen: Agony, Incontinent, Dementia, Silence.
Nach all seinen Erfahrungen mit Aids und Tod konnte Seid nicht mehr einfach nur Kunst im Sinne einer auf sich selbst bezogenen Avantgarde machen. Er mußte eine Form für das Leid finden: „Ich will, daß man zuerst emotional auf die Werke reagiert und dann erst denkt.“ Die Arbeiten sollen expressiv an der Grenze zwischen Kunst und Müll wirken, wie etwa die schockierende Installation „Wunde“. Es ist ein überdimensionaler Anus, rot, entzündet und geschwulstartig verwachsen. Wie in einen Guckkasten sieht man hinein und entdeckt eine geheimnisvolle Welt aus roten, unkörperlichen Formen. Hier ist der Gegensatz zwischen äußerem Ekel und innerer, formal produzierter Schönheit am größten.
Das jüngste Werk der Hagener Ausstellung besteht aus drei Leuchtkästen. Mit „Genepool“, 1992, aktualisiert Seid, der chinesischer Abstammung ist, einen alten Brauch seiner Heimat: Schreine mit den Bildern der Vorfahren im Haus zu haben. Dafür ließ er sein Blut in einem Institut genetisch aufschlüsseln. Diese Matrix diente ihm als Grundstock für Porträts von sich und seinen Eltern, bei denen kleine Reagenzgläser wie Pixel die Gesichtszüge formieren. Es ist ein doppeltes Porträt – einmal wird das abstrakte Erbmaterial formal eingesetzt, zum anderen rahmen die Eltern den Sohn. So soll die Fragwürdigkeit der gegenwärtigen Eingriffsversuche in unsere eigene Natur anschaulich werden. Fragwürdig auch, ob dieses Weltbild stimmt, daß wir lediglich eine Kombination aus Chemikalien sind. Antworten muß man schon selber finden, denn: Kunst, sagt Dui Seid, kann nur Fragen stellen. Matthias Kampmann
Dui Seid: „Artist's Estate“. Bis 30.3., Karl Ernst Osthaus-Museum, Hagen. Katalog: 25 DM
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