: „Man hat mich schon lange getötet“
18 Jahre nach dem Sturz des Schahs hat der Iran für Jugendliche nichts zu bieten. Sie sind meist ohne Arbeit und ohne Perspektive. Was ihnen bleibt, ist die Flucht in Drogen, Horrorvideos und Mord ■ Von Hassan Zartoscht
„Ja, ich bekenne mich schuldig, ich habe den Mord begangen. Aber ich muß sagen, daß man mich seit langem getötet hat. Nach meinem Mörder hat niemand gesucht.“ Mit diesen Worten rechtfertigte sich die 16jährige Iranerin Somajeh Ende Februar vor einem Teheraner Gericht. Zusammen mit ihrem gleichaltrigen Freund, Schahroch hatte sie im Januar ihre beiden Geschwister (14 und 8 Jahre) getötet. Auf die Frage des Gerichtsvorsitzenden nach ihrem Tatmotiv erklärte Somajeh: „Ich habe das seit langem vorgehabt, weil man mich schon lange getötet hat. Ich hatte mich entschlossen alle Jugendlichen umzubringen. Weil niemand sie achtet. Ich weiß nicht, wie die Jugendlichen leben können! Sie haben weder in der Familie noch in der Gesellschaft ihren Platz.“
Für die Teheraner Richter boten Somajehs Worte keinen Grund für Gnade. Sie verhängten gegen die junge Iranerin und ihren Freund die Todesstrafe. Vollzogen ist sie noch nicht. Auch können die Jugendlichen noch in die Berufung gehen. Doch hatten die Eltern der Angeklagten schon zu Prozeßbeginn erklärt, daß sie mit einer Hinrichtung einverstanden seien. Der Vater des Mädchens behauptet, er sei sehr religiös und habe nichts von der Beziehung zwischen seiner Tochter und Schahroch gewußt – obwohl der oft bei der Familie übernachtet hatte.
Somajeh und Schahroch wurden 1981 geboren, zwei Jahre nach der Revolution. Sie sind unter strengen „islamischen“ Verhaltensnormen aufgewachsen. Sie gehören zu jenen über 20 Millionen IranerInnen, die zwischen elf und 24 Jahre alt sind – ein Drittel der iranischen Bevölkerung sind Jugendliche. Viele von ihnen sind ohne Arbeit und Beschäftigungsmöglichkeit. Sie dürfen weder Sport treiben noch Filme ihrer Wahl sehen. Eigeninitiative ist in der Islamischen Republik schon für Erwachsene nicht erlaubt, geschweige denn für Jugendliche und Kinder. Islamischen Geistlichen gelten sie als besonders anfällig für „verdorbenes“ westliches Verhalten. In Kindergarten und Schule werden sie daher auf „islamische Werte“ gedrillt – häufig mit dem gegenteiligen Effekt.
Die einzige Möglichkeit, ein Eigenleben zu führen, besteht für sie im Rückzug ins Private, zum Beispiel bei privat organisierten Parties. Aber auch solche Zusammenkünfte werden von der Regierung nicht geduldet. Die Pasdaran (Revolutionsgarden) überfallen Häuser, in denen gefeiert wird, verhaften Jugendliche, verprügeln sie, kassieren zum Teil eigenmächtig „Strafe“. Im letzten Jahr warfen Pasdaran bei einer solchen Razzia im Westen Teherans einen Jugendlichen aus dem Fenster eines der oberen Stockwerke eines Hochhauses – er starb.
Andere Vergnügungen der Jugendlichen, zum Beispiel am Wochenende unbeaufsichtigt auf die Berge im Norden der Hauptstadt zu steigen und sich dort frei zu bewegen, sind inzwischen verboten. Als Reaktion wenden sich viele Jugendliche Drogen, Horrorvideos und Pornographie zu – genau jenen Dingen, die die islamische Regierung unter dem Stichwort „Verwestlichung“ bekämpft.
Unter iranischen Jugendlichen sind Breakdance, Rap, Punker- outfit und demonstrative Zurschaustellung „westlicher“ Verhaltensweisen keine Seltenheit. In einem Geheimbulletin, das die „Organisation für die islamische Propaganda“ regelmäßig in sehr begrenzter Auflage für die Staatsfunktionäre und Revolutionskader zusammenstellt, wird moniert, daß sogar Angehörige der revolutionären Organisationen „Punk-Frisuren“ tragen.
In Ausgabe 79 des Bulletins ist von der Beschlagnahme von 40.000 „obszönen“ Bildern in Schulen der Provinz Mazandaran die Rede. In Ausgabe 58 wird berichtet, allein in der Stadt Kermanshah gebe es 100.000 Drogensüchtige. Die Zahl der Drogensüchtigen im gesamten Iran wird mittlerweile auf über fünf Millionen geschätzt – fast neun Prozent der Gesamtbevölkerung.
Drogenbeschaffung ist für Jugendliche kein Problem. Unterderhand sind sie überall in der Islamischen Republik erhältlich – nicht zuletzt, weil sich auch die Pasdaran im Drogenhandel engagieren: Sie verkaufen beschlagnahmte Ware preisgünstig an Süchtige weiter.
Die politische Führung macht keine Anstalten, den Jugendlichen eine sinnvolle Freizeitbeschäftigung anzubieten. Die Jugendpolitik der Islamischen Republik hat auf der ganzen Linie versagt. Um der angeblichen „Verwestlichung“ zu begegnen, läßt die Staatsführung gelegentlich Jugendliche aus den Slum- und Armenvierteln der großen Städte gegen Bezahlung als „Ansar-e Hisbollah“ (Freunde der Partei Gottes) auftreten. In reicheren Stadtteilen machen diese Jagd auf gutgekleidete Altersgenossen, überfallen Kinos und andere Treffpunkte. Die staatlich kontrollierten Massenmedien unterstüzten diese Aktionen, in dem sie behaupten, die besser gekleideten Jugendlichen seien Ursache des Elends der anderen.
Doch auch unter gläubigen Jugendlichen verliert die Regierung an Einfluß. In Geheimbulletin 47 wird beklagt, daß sich nur ein Prozent der Bevölkerung der nordwestiranischen Stadt Hamedan am Freitagsgebet beteilige. Besonders fatal sei die geringe Teilnahme von Jugendlichen.
Um der wirtschaftlichen Misere zu entgehen, flüchten sich junge Frauen in die Prostitution. In Bulletin 75 wird berichtet, bei Razzien in Zahedan seien 1.000 Prostituierte verhaftet worden. Das Geschäft mit dem Sex habe zur starken Verbreitung von Aids geführt. Sogar rund um den Schrein des Imam Reza in Maschhad würden junge Frauen ihre Körper verkaufen, heißt es in Bulletin 78.
Achtzehn Jahre nach der Revolution habe deren Werte vor allem für die erst in der Islamischen Republik geborenen Jugendlichen kaum eine Bedeutung. Bei den nächsten sozialen und politischen Umbrüchen könnten sie genau deshalb zu einer treibenden Kraft werden – ähnlich wie bei der Revolution von 1979.
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