Überfall im Morgengrauen Von Ralf Sotscheck

Früher hatte ich geglaubt, daß man als Landei geboren wird. Inzwischen weiß ich, daß man das auch im späteren Leben noch werden kann. Jutta hatte früher in der Anzeigenabteilung der taz in Berlin gearbeitet und galt zu Recht als Großstädterin. Doch eines Tages lernte sie im Urlaub einen Iren kennen, heiratete ihn und zog zu ihm in sein kleines Dorf an der irischen Westküste, wo die Menschen ein bißchen wunderlich sind. Sie gewöhnte sich alsbald an das dörfliche Leben, durchschaute die komplizierten sozialen Verflechtungen der ländlichen Gemeinschaft und lernte die Eigenarten ihrer Mitmenschen lieben.

Doch die Liebe zu ihrem Iren erkaltete nach wenigen Jahren, und Jutta floh aus dem Dorf in die Hauptstadt an der gegenüberliegenden Küste Irlands, wo sie sich ein kleines Reihenhaus in einer Vorortsiedlung kaufte. Schon in der ersten Nacht bereute sie diesen Schritt, vor dem man sie im Dorf eindringlich gewarnt hatte. Dublin sei ein Hort der Sünde und des Verbrechens, meinen die Provinzler, die sich bei Erwähnung der Hauptstadt stets bekreuzigen. In Dublin heißen die Landeier „Culchies“ – nach dem gottverlassenen Dorf Kiltimagh in der ebenso gottverlassenen Grafschaft Mayo. In dieser Nacht schienen sich die Vorurteile der Culchies zu bewahrheiten.

Gegen vier Uhr nachts wurde Jutta von einem merkwürdigen Geräusch wach. Als sie im ersten Stock den Schlafzimmervorhang vorsichtig zur Seite schob, sah sie einen Kleinlaster vor ihrer Tür parken. Sie lief mit weichen Knien in Windeseile, aber lautlos nach unten und bemerkte zu ihrem Schrecken, daß ein junger Mann mit einer tief ins Gesicht gezogenen Pudelmütze die Einfahrt heraufschlich. In der Hand trug er etwas, das wie eine Waffe aussah.

Was tun? Um die Polizei zu rufen, war es zu spät. Angriff ist die beste Verteidigung, sagte sich Jutta: Als der Pudelmützenträger an der Eingangstür angelangt war, trommelte sie von innen mit den Fäusten dagegen und brüllte gleichzeitig wie eine Indianerin auf dem Kriegspfad. Zu ihrer Erleichterung flitzte der junge Mann zu seinem Fluchtfahrzeug, warf sich hinter das Steuer und jagte mit quietschenden Reifen davon.

Was aber, wenn er zurückkehrte, nachdem ihm eingefallen war, daß es in Dublin gar keine Indianer gibt? Es wäre wohl besser, so schoß es Jutta durch den Kopf, die Polizei zu verständigen. Nach einer Weile meldete sich trotz der unchristlichen Uhrzeit jemand beim Notruf, und Jutta berichtete von dem versuchten Einbruch und ihrem mutigen Einsatz, mit dem sie den offenbar nicht sehr abgebrühten Möchtegern-Einbrecher in die Flucht geschlagen hatte. Der Beamte versprach, einen Kollegen zum Beinahe-Tatort zu schicken. Bereits nach einer Viertelstunde klingelte es. Ein freundlicher, dicker Polizist mit verschlafenem Gesicht stand mit einer Flasche Milch in der Hand vor der Tür und brummte: „Haben sie früher auf dem Land gewohnt?“ Als Jutta bejahte, erläuterte er im Ton eines Mannes von Welt, der einem Culchie die Zivilisation erklären will: „In Dublin ist es Sitte, daß man Neuankömmlingen eine kostenlose Flasche Milch vor die Tür stellt. Sie haben den armen Milchmann zu Tode erschreckt, so daß er seine Tour abgebrochen hat und ich nun die Milch austragen muß.“