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Todesengel des Mittelstands

Glaube, Liebe, keine Hoffnung: Neue osteuropäische Dramatik beim Spektakel „Osterweiterung“ der Freien Kammerspiele Magdeburg  ■ Von Michael Mans

Daß es Frühling wird, erkennt der Theatergänger daran, daß die Festivals wieder sprießen, zuerst die Zwei-Tage-Rennen der kleineren Theater. In Magdeburg hatte man sich am letzten Wochenende viel vorgenommen: Insgesamt sieben Premieren fanden unter dem Label „Osterweiterung“ am gleichen Tag statt, darunter vier Ur- und deutsche Erstaufführungen osteuropäischer Stücke, und zusätzlich Performances, Modenschau, Konzert.

Auf Events versteht sich die Leitung der Freien Kammerspiele, die im siebten Jahr ihres Bestehens schon das 13. Spektakel vorlegte. „Osterweiterung“ war bisher eines der größten, ein regelrechter Kraftakt, den das Haus mit Bravour bestand. Zwischen den fünf verschiedenen Veranstaltungsorten, die teilweise zeitgleich bespielt wurden, pendelten ein Bus und ein Sonderzug der Straßenbahn, und es war ein kleines organisatorisches Wunder, daß das siebenstündige Mammutprogramm, das am nächsten Tag komplett wiederholt wurde, ohne nennenswerte Verzögerungen vonstatten ging.

„Es gibt jetzt viele überflüssige Menschen.“ Dieser Satz kam, so oder so ähnlich, in gleich zwei der in Magdeburg gespielten Stücke vor, in Akos Némeths ungarischem Totentanz „Julia und ihr Leutnant“ und in Ljudmila Rasumowskajas „Nach Hause“, und er ist wohl die kürzeste Quintessenz der gemeinsamen osteuropäischen Nachwendeerfahrung. Magdeburg, die Sket-Stadt, ist in Deutschland ein Symbol dafür geworden, eines von vielen. Und: die Symptome der Nachwendezeit schließen sich dramaturgisch mit Topoi der Nachkriegszeit kurz.

Das Personal aus den Dramen des 33jährigen Németh und der 49jährigen Russin Rasumowskaja, der entlassene Leutnant, die in einer Ruine hausenden elternlosen Jugendlichen, kommt uns seltsam vertraut vor, ebenso die bei Németh schneidend knappe, bei Rasumowskaja pathetisch moralistische Sprache: nach 1918, nach 1945 klang deutsche Dramatik so.

Julia ist Nachtklubtänzerin, ihr Leutnant ein wegen illegalen Waffenhandels unehrenhaft aus der Armee entlassener Berufssoldat. Er läßt sich von ihr aushalten und haßt sie dafür, er schenkt ihr täglich Blumen und betrügt sie mit ihrer besten Freundin, er schwört ihr ewige Liebe und bringt sie schließlich um. Némeths Stück zeigt das ausweglose Kreisen eines überflüssig Gewordenen zwischen Eifersucht, Selbsthaß, Selbstmitleid, Traumtänzerei, Zerstörungswut.

Hermann Schein, noch bis Ende der Spielzeit Hausregisseur der Freien Kammerspiele, inszenierte dieses unerhört genau ausbuchstabierte Drama über die Liebe in den Zeiten der Arbeitslosigkeit mit gehöriger Lakonie und ließ seine Hauptdarsteller Michael Günther und Oda Jekaterina Pretzschner äußerst zurückgenommen spielen. Gerade aus diesem Verzicht auf Pathos und große Geste gewinnt die Inszenierung ihre Spannung und ihre Wahrhaftigkeit.

Rasumowskajas verlorene Kinder brachte das Theater Nordfront in einem verfallenden Vorortbahnhof zur Aufführung. „Nach Hause“ ist eine ziemlich schwergängige und moralistische Geschichte um eine Bande obdachloser Jugendlicher, zu denen ein junger Mönch stößt. Ein schwangeres Mädchen stirbt bei der Geburt, ein anderes soll als Prostituierte verkauft werden, schließlich führt der Todesengel sie alle in eine bessere Welt. Auch Regisseur Klaus Noack entscheidet sich trotz des realistischen Ambientes der kalten Bahnhofshalle gegen puren Naturalismus.

Seine Amateurdarsteller werden nicht in malerische Lumpen gehüllt, sondern bleiben, was sie wohl sind: Magdeburger Mittelstandsjugendliche, die sich langsam in chorischem Sprechen dem fremden Text nähern. Leider wollen sie ihm allzubald allzu nahe kommen, in einigen Szenen wird recht unbedarft geschrien und gerangelt, aber im großen und ganzen ist es eine sehenswerte Auseinandersetzung mit einem mehr als problematischen Text, die auch im Kontext der professionellen Produktionen dieses Spektakels ihren Platz behaupten kann.

Bei Rasumowskaja soll der Glaube erlösen, bei Németh die Liebe. Auf Hoffnung, gar auf Utopie setzt keiner mehr. Michail Ugarows „Die grünen Wangen des April“, in den Freien Kammerspielen uraufgeführt, ist eine kleine Groteske über Lenin und die Krupskaja im Zürcher Exil 1916, zu einer Zeit also, als Utopie noch möglich erschien. Ugarows Lenin (Norman Schenk) aber ist ein Westentaschentyrann, der von Wagner-Opern schwafelt und über seine unglückliche Kindheit greint. So desavouiert der Autor gründlich jeden Gedanken daran, daß von diesem Hoffnungsvolles zu erwarten gewesen wäre. Ob das in Rußland noch etwas von notwendigem Tabubruch hat, weiß ich nicht; in Deutschland ist es reichlich uninteressant.

Außerdem war eine Schlagerrevue im Programm, die den Trashgeschmack mit „Sehnsucht heißt das alte Lied der Taiga“ bediente und auch den Magdeburger Polizeichor („Bei uns singen auch Nichtpolizisten!“) mitwirken ließ. Die Performance des Russen Andrej Welikanow in der Theaterkneipe hingegen entpuppte sich als Parforceritt durch die russische Geschichte: „Stalin vögelte nie. Freud war so verwundert darüber, daß er nach Moskau reiste. Dort starb er und wurde an der Kremlmauer neben Isadora Duncan beigesetzt.“ So endete das Festival doch noch in fröhlichem Blödsinn.

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