: Nachkriegsverzweiflung
■ Bulgarisches Donnergrollen und Wunschmaschinen aus Tschechien: Die 20. Grenzlandfilmtage im fränkischen Selb mit Neuem und Altem aus Osteuropa
Ausgerechnet während des Wintereinbruchs mitten im April stellten die Grenzlandfilmtage im oberfränkischen Selb zum zwanzigstenmal Filme aus den Ländern vor, die bei Gründung des Festivals noch unter „Ostblock“ firmierten. Die Ausdauer der Veranstalter ist zu bewundern – einmal wegen ihres Minimalbudgets und dann, weil Osteuropa derzeit für Kinogänger enttäuschend wenig zu bieten hat. Aus Polen etwa wurde nur ein einziger Film gezeigt, denn die anderen gesichteten seien „Schrott“ gewesen. Dieser eine, „Im Gully“ von Pawel Lozinski, von Kieslowski noch künstlerisch beraten, war dafür einer von den drei sehenswerten Filmen des Festivals. Kinder- und Erwachsenenfilm zugleich, zeigt er sehr realistisch und völlig unsentimental die Begegnung eines von den Eltern vernachlässigten Jungen und eines von den Kindern verlassenen alten Mannes, die beide arm genug sind, um einen ganzen Tag mit dem Versuch zuzubringen, einen großen Geldschein aus einem Gully zu fischen.
Aber sonst leider viel Ödnis. Das Verhältnis zu den Eltern war in so gut wie allen Filmen zentrales Thema, ob im bulgarischen „Donnergrollen“ von Ivan Tscherkelow, im ungarischen „Erwachen“ von Judit Elek oder in „Carmen“ von Metod Pevec, dem slowenischen Beitrag zur Reihe „Wilde Herzen“. Wir verstehen zu schnell: Alle Autoritäten sind weggebrochen, die Jugend ist orientierungslos, große Not. Oder die Kinder werden bis ins vierte Glied verfolgt von den Schrecknissen, die ihre Väter töteten.
Die diesjährige Werkschau war Zrinko Ogresta aus Zagreb gewidmet, der in einer sozialdemokratischen Geschichtsstunde die Ursachen des Krieges zu erklären versuchte („Splitter – Chronik eines Verschwindens“, 1991) und dann zeigte, wie die allgemeine Nachkriegsverzweiflung zum Existentialismus führt („Die Ausgelaugten“, 1995). Ogresta selbst sagte, nach dem vorletzten Krieg hätte man auf brauchbare künstlerische Verarbeitungen 15 Jahre warten müssen.
In dieser Zelluloidwüste mit Schneetreiben funkelten die Perlen dafür um so schöner: Neben „Im Gully“ der russische Eröffnungsfilm „Gefangen im Kaukasus“ von Sergej Bodrov, der in Cannes den Publikumspreis erhielt und diesen Monat in Deutschland anläuft, und „Verschwörer der Lust“ des genialen tschechischen Animationsfilmers Jan Švankmajer, der sich, wie er sagte, für diesen „leicht erotischen“ Film die „professionelle Expertise“ von Sacher-Masoch, de Sade, Freud, Buñuel, Max Ernst und Bohumil Brouk holte. Die „Verschwörer der Lust“ sind damit beschäftigt, äußerst elaborierte Apparaturen und Methoden zur Selbstbefriedigung zu entwickeln, ob sie sich nun die Birne mit Kügelchen aus Brotteig zudröhnen, sich von Karpfen an den großen Zehen lutschen lassen oder die Zimmernachbarin als Puppe in effigie erschlagen. Ein sehr lustiger Film ohne Dialoge, der einen traurig in die Nacht entläßt.
Švankmajer ist Jahrgang 34 und damit alte Schule; denn daß in Osteuropa einmal großartige Filme entstanden, zeigte die Jubiläumsretrospektive mit Filmen, die früher in Selb gelaufen sind: zum Beispiel „Der Ölfresser“ (1988), die kurze Satire über die Umweltvernichtung in Nordböhmen von Jan Šverák, der gerade für „Kolja“ den Oscar für den besten ausländischen Film gewann; oder der Dokumentarfilm „Bilder einer alten Welt“ (1972) über alte slowakische Bauern von Dušan Hanák. Einige Kurzfilme sehr junger Regisseure aus Tschechien (Aurel Klimt) und der Slowakei (Katarina Urbanová) lassen hoffen. Die Grenzlandfilmtage können nur besser werden. Iris Hanika
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