: Vom Glück auf der Kippe
■ Andrew Cowans unspektakuläres, gelungenes Erzähldebüt „Schwein“
Die Idylle ist immer von Untergang umstellt. Sie gedeiht nur vorübergehend und nur dort, wo eigentlich schon alles zu Ende ist. Die englische Kleinstadt in Andrew Cowans Debütroman „Schwein“ ist so ein Ort. Man kennt diese Welt aus britischen Arbeiterklassefilmen wie „Riff Raff“ oder, auf der letzten Berlinale zu sehen, „Brassed Off“. Eine Gesellschaft nach der Stillegung: Das alte Stahlwerk wurde schon vor Jahren abgerissen, die Schutthalde, die davon übrig blieb, ist zur Müllkippe verkommen. Bunte Plakate verkünden, daß hier irgendwann einmal ein „LeisureLand“- Vergnügungspark entstehen soll. Kein Grund zur Freude, aber für manche die vage Aussicht auf Arbeit.
Neben dem Industriebrachland liegt das winzige Haus von Großvater und „Omchen“, mit einem hübschen kleinen Garten und einem Schweinekoben. Für den jungen Danny ist hier der Zufluchtsort, wenn sich zu Hause die Eltern streiten. Der Vater ist meistens besoffen und versucht dann, die Mutter auf der Treppe zu vergewaltigen. Als Danny hinzukommt, zieht er sich die Hosen hoch, und die Mutter blickt ihren Sohn mit traurigen Augen an. Sie ist längst abgestumpft und resigniert – so wie Dannys immer dicker werdender Bruder Richard, der bewegungslos auf dem Sofa vor dem Fernseher liegt, mit Bierdose und Zigarette gewappnet. Mehr hat das Leben sowieso nicht zu bieten.
Als „Omchen“ stirbt – und damit setzt der Roman ein –, muß Großvater ins Altersheim. Allein findet er sich nicht zurecht, denn er sitzt nach einer Amputation im Rollstuhl. Aber das stört ihn nicht allzusehr, und wegen solcher Lappalien mit dem Rauchen aufzuhören kommt schon gar nicht in Frage. Irgendwie ist das Leben auf der Kippe mit der Kippe im Mund leichter zu ertragen. Selbst Danny mit seinen dreizehn, vierzehn Jahren raucht schon, was das Zeug hält.
Engländer, beklagt Surinder, sind dreckig
Danny ist ein stiller, verträumter Junge, der eigentlich nur in Ruhe gelassen werden will. Nachdem das Haus der Großeltern so plötzlich leer steht, beschließt er, es in Schuß zu halten. Vor allem aber will er sich um Omchens altes Schwein kümmern und es vor dem Schlachthaus retten. Jeden Tag fährt Danny zum verlassenen Haus und kämpft dort einen vergeblichen Kampf gegen Unkraut und Verfall, während das Schwein immer schlapper und kränker wird. Und doch findet Danny hier sein Glück. Hier trifft er sich heimlich mit seiner indischen Freundin Surinder. Die abgelegene Idylle ist der Ort einer unmöglichen Liebe, man weiß, daß sie nicht dauern kann. Auf den Hauswänden der Siedlung stehen fremdenfeindliche Parolen. Auch in Dannys Familie nimmt die Wut auf die Inder zu, die nun sogar – Gott bewahre! – ins Nachbarhaus einziehen. Und Surinders Eltern schmieden traditionsgemäß Heiratspläne für ihre Tochter. Engländer sind da nicht vorgesehen. So gerät Dannys und Surinders Freundschaft zur stillen Revolte gegen ihre von Traditionen und Borniertheiten verstellte Welt und ihre Erkundung der Liebe zu einem selbstverständlichen, humanistischen Gegenmodell zum herrschenden Rassismus.
Beiläufig, mit leiser Ironie, dreht Andrew Cowan die gängigen Klischees um. Surinder beklagt, daß die Engländer so faul und dreckig sind, während sie sich sorgfältig ihr blauschwarzes Haar kämmt. Sie geht fast täglich in die Bibliothek und interessiert sich für englische Geschichte, Danny dagegen schwänzt die Schule, sooft es geht, und interessiert sich für gar nichts. Mach endlich was aus deinem Leben, sagt seine indische Freundin, aber er zündet sich bloß die nächste Zigarette an.
Andrew Cowan erzählt seine Geschichte lakonisch, in einem bestechend unspektakulären Ton, bis hin zum tragischen Ende. Er schreibt einen Realismus der genauen Wahrnehmung, der Gefühle und Stimmungen in unaufdringlichen Details erahnen und jeden Augenblick absolut erscheinen läßt. „Schwein“ ist ein Pubertätsroman, der in seiner ruhigen Intensität an Salingers „Fänger im Roggen“ erinnert. Es ist aber auch, ganz beiläufig, die Momentaufnahme einer untergehenden Gesellschaft. Und wenn Danny schließlich mit Tränen in den Augen sein Schwein tötet, dann ist mehr zerstört als nur das kleine Idyll am Rand der Stadt, geht mehr zu Ende als nur ein regnerischer, unvergeßlicher Sommer. In Zukunft wird es hier kein Glück mehr geben. Höchstens einen traurigen Vergnügungspark. Jörg Magenau
Andrew Cowan: „Schwein“. Roman. Aus dem Englischen von Eike Schönfeld. Haffmans Verlag, Zürich 1997, 284 Seiten, 36DM
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