piwik no script img

Die Geburt des Ultrahumanen

Mark Dery verpaßt der Cyberkultur eine Genealogie und erinnert höflich an die Schwerkraft, während die Cybernauten sich auf die ersehnte Überwindung der Materie vorbereiten  ■ Von Niels Werber

Cyberculture? Virtuelle Klasse? Mark Dery gehört dazu. Er schreibt für die hippen kalifornischen Magazine Mondo 200 und Wired sowie für die seriösen Blätter der Ostküste New York Times und Village Voice. Er hat eine schöne Homepage (http://www. com/user/markdery/) und beteiligt sich an den E-Mail-Debatten zahlreicher Foren. „Cyber. Die Kultur der Zukunft“ lautet der in Deutschland unvermeidliche Titel von Derys neuestem Buch, als ginge es auch ihm um Trendforschung für das nächste Jahrtausend. Der Titel des im letzten Jahr erschienenen Originals lautet vorsichtiger „Escape Velocity. Cyberculture at the end of the century“. Und bei der Frage, ob die Fluchtgeschwindigkeit groß genug ist, um die Anziehungskraft der Erde zu überwinden, ist Dery skeptisch.

Die Subkultur und ihre Semantik

Tatsächlich geht es ihm nicht um eine neue Version der schon gewohnten Ankündigungen einer anstehenden Auflösung der guten alten Realität in all das, was man mit dem Schlagwort „Cyber“ verbinden mag, sondern um die Bestandsaufnahme einer Subkultur und die Beschreibung ihrer Semantik.

Dery nimmt durchaus Teil an dieser Kultur, aber nicht als Futurist, der technoide Phantasien des kommenden Millenniums schon jetzt für bare Münze nimmt. Er ist kein Preister der kalifornischen Ideologie, sondern ihr Kritiker, dessen Unternehmen es ist, dem zukunftssüchtigen Cyberdiskurs eine Vergangenheit zu geben. Aus diesem Sinn für die Historizität einer Semantik, die sich selbst immer schon im nächsten Jahrtausend situiert, resultiert Derys in dieser Szene eher seltener kritischer Geist.

Florian Rötzer hat in Deutschlands einzigem Online-Magazin für Netzkritik Telepolis Derys Bemühungen als Attitüde bezeichnet, die allenfalls „an der Oberfläche kritisch“ seien, tatsächlich aber ohne „eigene Gedanken“ auskommen müssen. Dieser Vorwurf muß überraschen, denn in einer Zeit, in der das Memorandum eines Bill Gates über die künftige Netzsoftware von Microsoft gehandelt wird wie die Regierungserklärung einer Großmacht, sind Texte so verbreitet noch nicht, die in all den begeisterten Verlautbarungen eher eine „Rhetorik der Fluchtgeschwindigkeit“ entdecken als einen ernst zu nehmenden Countdown zum Take-off ins immaterielle Jahrtausend.

All denen, die in den Rechnernetzen die Startrampe eines Cybertrecks in ein neues Altantis sehen, in der, je nach Couleur der Visionäre, endlich alle Träume demokratischen Zusammenlebens, emphatischer Interaktion, reibungslosen Welthandels oder androgyner wie spiritueller Sexualität wahr werden sollen, erinnert Dery an die Gravitation der „Körper“, die „in absehbarer Zukunft“ auf diesem „Planeten“ verbleiben werden. Dery warnt vor einer von unreflektierten Hoffnungen gespeisten Euphorie, die in „Randbereichen der Computerkultur“ die Gefahr einer „sich selbst erfüllenden Apokalypse“ in sich berge.

Wandlung zum Sternenkind

1968 war nicht nur das Jahr der Hippies und des Protests, in diesem Jahr kam auch Stanley Kubricks „2001: Odyssee im Weltraum“ in die Kinos. Kubrick verschmilzt in diesem Film Kennedys Vision von der „New Frontier“, dem Weltraum, den es für die USA zu erobern gelte, mit einer „Reise ins Innere des Bewußtseins“. Der Film, so Dery, stelle eine „psychedelische wie technologische Epiphanie“ dar. Am Ende der Reise durchquert der Astronaut Bowman einen „Stargate-Korridor“, „läßt alles Menschliche hinter sich und erfährt die Wandlung zu einem gottähnlichen Sternenkind“, er wird Kind und Greis zugleich. Der Film zitiert die Hippieerwartung der Bewußtseinserweiterung, wie sie ein LSD-Trip verheißt, um sie einzulösen mit Hilfe der Hochtechnologie von Raumfahrt und Computer. Die Überschreitung aller Grenzen und die Überwindung des Körpers ist der Generalnenner einer Semantik, welche halluzinogene Drogen mit dem Apollo-Programm, die „Gegenkultur der Sechziger“ mit dem technokratischen Optimismus des Kennedy- Amerika verbindet. „2001“ kündigt jene kalifornische Ideologie radikaler Selbstverwirklichung und technischer Allmacht an, die heute Althippies wie John Perry Barlow mit Neokonservativen wie Newt Gingrich zu einer Lobby zu verschweißen versteht.

Vom Sternenkind zu Gott

Eine erstaunliche Variante dieser Vision entstammt gleichfalls den sechziger Jahren: Marshall McLuhans Verkündigung des Endes der „Gutenberg-Galaxy“ (1962) und Pierre Teilhard de Chardins Versprechen der baldigen Ankunft des Menschen („L'avenir de l'homme“, 1962) am „Omega-Punkt“ der Gottwerdung der Schöpfung begründen eine Art medientheoretische Kosmologie, die nicht individualistisch ist wie der space trip von Kubricks Astronauten, sondern das globale Schicksal der Gattung Mensch betrifft. „Ich glaube, daß sich der Planet in den kommenden Jahrzehnten zu einer künstlichen Form verwandeln wird; der ,neue Mensch‘, integriert in eine kosmische Harmonie, die Zeit und Raum übersteigt, wird selbst zu einer organischen Kunstform werden“, zitiert Dery McLuhan. Danach kommt Teilhard zu Wort mit seiner These von der Geburt des „Ultrahumanen“ aus der „explosiven Entwicklung der Technik“. Mensch, Welt und Technik verschmelzen zu einem Megametabolismus, dessen gottähnliches Bewußtsein ihn zum Gesprächspartner für Gott qualifiziere. Diese Gedanken, so Dery, „hallen in ganz Cyberdelia wider“. Für Plausibilität sorgt dabei die suggestive Vorstellung, daß die Glasfaserkabel des weltweiten Datennetzes die Nerven eines Superorganismus seien, der notwendigerweise auch ein Bewußtsein entwickeln werde, da er nun schon einmal über ein neuronales Netz verfüge.

John Perry Barlow sieht in der Verdrahtung der Welt die Verschmelzung „des menschlichen Bewußtseins zu einem einzigen kohärenten, simultanen Etwas“. Teilhard habe das dazu nötige Medium, das World Wide Web, vorhergesagt, steht auf zahllosen Webseiten zu lesen.

So erhält das Versprechen der amerikanischen Soft- und Hardwarehersteller, die gesamte Weltbevölkerung in Konsumenten zu verwandeln, den Rang einer religiösen Heilsbotschaft. Dery spricht von der naiven „Technophilie“ der „Millenniums-Prophezeiungen“, die sich die Lösung aller irdischen Probleme von einem „deus ex machina“ versprechen, und erinnert an die „Schwerkraft der sozialen und politischen Realität“. Die zahllosen „Wunscherfüllungsphantasien vom Ende aller Grenzen“ finde „in einer Welt der Grenzen“ statt, die Überwindung der „gesellschaftlichen Vertäuungen“ sei auf die Phantasiewelt der Cyberkultur beschränkt.

Bilderwelt des Katholizismus

Nach Derys erschöpfendem Rundgang durch die Cyberkultur, der laut Hotwired nichts ausläßt, wünscht man sich von der Kritik eine ähnliche Liebe zum Detail, wie sie dem Materialsammeln zugute kommt. Die Anmerkungen zur transhumanen Religion könnten mit gründlicheren Reflexionen zur neoliberalen Ideologie verbunden werden. Wie Max Weber zu Beginn des Jahrhunderts den Geist des Kapitalismus auf die protestantische Ethik zurückführte, müßte heute ein Religionssoziologe den kalifornischen Neokapitalismus aus der Bilderwelt des Katholizismus zu verstehen suchen.

Mark Dery: „Cyber. Die Kultur der Zukunft“. Verlag Volk & Welt, Berlin 1997, 410 Seiten, 52DM

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen