: Despoten garantieren „Dynamik“
■ betr.: „Angst essen Zukunft auf“ (Herzog-Rede), „Pädagogik aus dem Adlon“, Kommentar von Christian Semler, taz vom 28. 4. 97
[...] Nachdem ich die Auszüge dieser Rede gelesen hatte, bin ich schnurstracks in innere Klausur gegangen, werde mich jetzt von Innen heraus erneuern. Endlich Schluß mit dem Hinterfragen gesellschaftlicher Risiken, wie Christian Semler es treffend bemerkt hat. Endlich keine Angst mehr vor den Gefahren und globalen Auswirkungen der Gen- und Atomtechnik.
Weiterhin werde ich auch von meinem Besitzstandsdenken Abstand nehmen und meine 905 DM Bafög vielleicht freiwillig um die Hälfte kürzen, dabei werde ich mich dann freuen und dem Himmel danken, daß ich überhaupt noch, im Gegensatz zu vielen meiner Kommilitonen, staatliche Unterstützung erhalte.
Ich bin mir sicher, daß die Arbeitslosen und Sozialhilfeempfänger die existenziellen Herausforderungen ebenfalls erkannt haben und dem Abbild des pflichtbewußten Bürgers folgen werden. Endlich Schluß mit dem Egoismus... obwohl, ist es nicht überwiegend gerade die Generation unseres verehrten Bundespräsidenten, die sich ihre Diäten erhöhen wollten und als Paradebeispiel während meiner Sozialisation, wie es die Soziologen so schön nennen, auf der „Straße der Selbstverwirklichung“ von dannen geschritten sind und mir als Vorbild dienen sollten?
Und ich stimme unserem Bundespräsidenten zu: Was wir brauchen, ist ein Wachstum der Wirtschaft, am besten zum Mond. Wirtschaftliche Dynamik und kürzere Produktzyklen statt Ozonlöcher, Bodenerosion, Trinkwassermangel und -verseuchung, Abholzung der Regenwälder, Vernichtung der Artenvielfalt, Störung des hochsensiblen Weltklimas, Turbokapitalismus – um nur einigen, wenig wichtigen Punkten ins Auge zu sehen.
In einem Punkt bin ich aber anderer Ansicht als unser verehrter Bundespräsident: Wir haben neben dem Umsetzungsproblem auch ein Erkenntnisproblem. Ich glaube ein ziemlich großes – vielleicht sogar ein existentielles? Markus Holtzmann, Hamburg
„Ich komme gerade aus Asien zurück. In vielen Ländern dort herrscht eine unglaubliche Dynamik.“
Mit dieser Einleitung beschreibt Herzog schon sein und unser Problem, ohne es zu bemerken. Das dumme Gerede von „asiatischen Werten“ gehört dazu. Was wir davon hören, ist von den Asiaten, mit denen direkt zu sprechen, sich limousinengekapselte Staatsbesucher nicht herablassen, nicht einklagbar.
[...] Wirtschaften, in denen Despoten ihrer eigenen Bevölkerung das Recht verwehren, selbst die eigenen Regeln einzufordern, haben es natürlich leicht „Dynamik“ zu zeigen. Es ist doch immer wieder erstaunlich, mit welcher Ignoranz Manager und Politiker bei uns die Tugend des vernetzten Denkens preisen, aber selbst nicht in der Lage sein wollen, den Zusammenhang zwischen Foulplay und „Wettbewerbsvorteil“ öffentlich zu erkennen. Diese Kurzsichtigkeit und Dummheit nutzt zum Beispiel Chinas brillante Politik des Teilens und Herrschens im Handel mit dem Westen. Ja, gerade China zeigt, daß Handelssanktionen funktionieren – nachdem die Nomenklatura (also nicht die eigene breite Bevölkerung) im zuvor freien Handel wirtschaftliche Schlagkraft erwerben konnte: „Was nun die China-Resolution angeht: Ich bin sehr froh, daß darüber nicht einmal abgestimmt wurde. Das ist ein Sieg der Kooperation. Und wenn es der Westen nächstes Jahr noch einmal versucht, werden wir ihn wieder schlagen“, meinte Wu Jiang-Min, Botschafter der VR China in Deutschland (in einem Interview in der Zeit vom 18. 4. 97, S. 4). Götz Kluge, München
Der Kommentar von Christian Semler hat ganz klar, das Thema verfehlt. Er ist zwar sehr schön provokativ mit einer an den Haaren herbeigezogenen und den Inhalt der Rede diffamierenden historischen Parallele, aber abgesehen von dieser hübschen Brutalität (die ich zuweilen an der taz sehr schätze), geht der Text nicht auf den Inhalt des Redeauszugs ein.
Wir befinden uns nicht vor einem Weltkrieg und die Aufgabe des Bundespräsidenten ist auf jeden Fall repräsentativer (vulgo: pädagogischer) Art. Wenn er wirklich Unsinn reden sollte, kann das immer noch zur Schau gestellt werden. In diesem Fall jedoch hat er die Probleme ganz klar benannt, und Christian Semler ist dem Kern dieser Aussage aus dem Weg gegangen. Er hat sich ein paar Rosinen herausgepickt und reflexartig auf Stichpunkte reagiert, die ich im abgedruckten Redeauszug vergeblich suchte (Kernkraft, Gentechnik, Digitalisierung).
Das allein ist schon schlechter Stil. Desweiteren ist der Bundespräsident kein Teil der Regierung, auch wenn er der falschen Partei angehört. Feindbild, ick liebe dir! Insofern ist es Blödsinn von Roman Herzog „durchgeknallte Projekte“ zu verlangen.[...] Norbert Ehreke, Zürich/Schweiz
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