: Erste Gehversuche im Kapitalismus
Sechs Jahre nach der Unabhängigkeit tut sich die Ukraine immer noch schwer mit dem Übergang zur Marktwirtschaft. Und viele Menschen haben die neuen Spielregeln noch nicht gelernt ■ Aus Kiew Volker Janssen
Am Unabhängigkeitsplatz im Zentrum der ukrainischen Hauptstadt Kiew, warten 100 bis 200 Rivalen. Im Nahkampf, doch fair mit angelegten Ellenbogen, geht es um die Plätze im Trolleybus 18. Die Sieger erwartet ein Transport in einer Enge, die Rundungen des eigenen Körpers in die Buchtungen des nächsten zwängt. Auch aus gegenseitiger Rücksicht atmen die meisten nur flach. Langstielige Rosen müssen vor tödlichen Brüchen bewahrt werden. Kindern sind im unteren Bereich, zwischen den Beinen, relativ sicher. Für die Benutzer von Kiews Stadtbussen ist die „Zeit der Sardinen“ wieder da. Den grauen Zwergen an der Sophienstraße, die zum Unabhängigkeitsplatz führt, verkündet aus zehn Meter Höhe die freundliche Riesin Claudia mit Revlon-roten Lippen die Revlon-„Revolution der Farbe“.
Unter dem Platz, in den neonhellen, mäßig schmutzigen Passagen, singen schwarzgekleidet und bleichgesichtig ein junger Dylan und ein junger Lennon zu ihren Gitarren. Im offenen Kasten liegen auch einige „Greenies“, Dollar- Noten. Um die Ecke, vor weniger Publikum, dröhnt ukrainischer Sentimental-Belcanto. Mögen ein paar Uniformierte herumstehen, so gut wie jeden Abend ist dieser Untergrund Treffpunkt für Kreative und Einsame, rauh, warm, kommunikativ, sogar etwas anarchisch anmutend.
Fast sechs Jahre ist die Ukraine, das nach Rußland größte Land Europas, jetzt unabhängig. Es ist reich an agrarischen und mineralischen Ressourcen. Doch kaum ein anderes Land des ehemaligen Ostblocks schwankt so unsicher wie sie durch ein Niemandsland: Die erzwungene, dümpelnde Selbstvergessenheit im gewesenen Imperium hat die Ukraine hinter sich gelassen, dem kalt zukunftsglänzenden Leitstern eines westlichen Kapitalismus traut sie noch wenig. Allenfalls die wiedererstandene Nation erscheint als Verheißung. Der Kleine, Schwache mit dem Zeug zu einem Großen hat noch Mühe, auf die Beine zu kommen und auszuschreiten. Die Beine sind noch etwas zu kurz für den Stolperweg zum fernen Weltmarkt.
Dennoch: „Meine Herren, Sie sind auf dem richtigen Weg!“ – so lobte Kanzler Kohl laut Schlagzeile von Holos Ukraina, der vom Parlament herausgegebenen Tageszeitung, bei seinem letzten Besuch die politische Führung. Auf dem Foto dazu lauscht der sonst coole Präsident Leonid Kutschma leicht angespannt mit Premier Lasarenko dem jovial dozierenden Champion der Übergangspolitik. Kohls Landsleute schieben und ziehen mit auf dem angeblich richtigen Weg.
Sie beraten wirtschaftlich und rechtspolitisch, lehren Sozialpolitik, installieren Heizungsregulatoren in ältere Häuser, damit vielleicht irgendwann mit dem Energiesparen begonnen wird. Es sind andere als jene „eisernen Deutschen mit den Schüsseln auf den Köpfen, die mit dem Feldmarschall Eichhorn und mit prächtigen, wohlgeschirrten Troßfuhrwerken nach Kiew kamen, ohne Feldmarschall und ohne Troßfuhrwerke und sogar ohne Maschinengewehre wieder abzogen“ (Michail Bulgakow über den Bürgerkrieg 1918/19).
An fast jeder U-Bahnstation außerhalb des Stadtzentrums summt oder brodelt ein Markt mit Kiosken, LKWs von Kolchosen, Datschaproduzenten und anderen Einzelkämpfern. Zwei hauteng gekleidete Teenies gucken sich Kosmetika am Kiosk an. Ein Mann im Jeansanzug hält eine Katze im Arm. Wie eine Beute trägt eine Frau einen Schweinskopf hoch vor sich her, dreht plötzlich um und geht zurück zum Verkaufsstand. Sie legt ihn auf die Waage, doch kaum genervt ob dieses plötzlichen Anfalls von Mißtrauen erklärt ihr die Verkäuferin das offenbar korrekte Gewicht. Zwischen Kiosken ein kleiner Grillplatz, Baumstümpfe dienen als Tische, es gibt Schaschlik und Fische vom Grill, Bier, Wodka und Rockmusik. Etwas weiter hockt eine junge Frau hinter ihrem winzigen Saftstand und liest in einem dicken Buch.
Dauerregen stört hier kaum, er fällt auf ein Kaffeeservice am Boden, auf die Frau im Anorak, die zwei Sprühdosen hochhält, auf die Schirme der Frauen mit Zigarettenschachteln in Plastiktüten. Von einem LKW fliegen Wassermelonen. Am Fischstand unterhält sich eine Frau mit einer anderen und läßt die Karpfen in der flachen Wanne fast zärtlich durch ihre Hand gleiten.
Die unerbittliche Schärfe des reinen Marktmotivs wird auf ukrainischen Märkten von mildem Chaos, Trägheit und Gemütlichkeit bis zur Lokalverträglichkeit aufgeweicht. Nicht alles, was in den alten Nischen wuchs oder wucherte an lebendigem Austauschgeflecht, soll einfach so ausgemerzt werden. Wirtschaftliches Konkurrenzverhalten scheint noch nicht gelernt, erst recht nicht verinnerlicht zu sein. Auch die Einzelkämpfer bieten ihre Würste, Sprühdosen, Schnittblumen und Bierflaschen eher gemeinsam feil, fast wie in einer Front gegen einen unbekannten Feind zusammengerückt. Das Zusammensein erscheint so wichtig wie die Einnahme – der Marktplatz als Unterschlupf für die vom Marktmechanismus ins Abseits Gedrängten.
Auf dem nationalen Markt freilich scheint der Nachfrage-Angebot-Grundmechanismus für die Dinge, auf die es ankommt im ukrainischen Leben, zu funktionieren: Die „sto gramm“, die 100 Gramm als Standardmaß für das Glas Wodka zum Frühstück oder zwischendurch, gibt es jetzt auch konsumentenfreundlich abgepackt in Plastikbechern.
Vor einem Jahr noch stand und stank an der Schuljawska der Straße des Eugène Pottier, der den Text der Internationale schrieb, ein hellblaues, rostendes Omnibuswrack als öffentliche Toilette. Jetzt ist es weg. Noch da ist, 100 Meter weiter, die Schlange vor dem Laden der Brotfabrik, wenn frische Ware geliefert wird. Die Brotschlangen gehören überall in der Ukraine zum Alltag, Brot ist das billigste Grundnahrungsmittel. Kann man sie in einem kollektiven Erinnerungszusammenhang sehen mit der großen Hungersnot der 30er Jahre, als unter Stalins Diktatur, im Rahmen der landwirtschaftlichen Zwangskollektivierung, auf der ukrainischen Schwarzerde, die zu den fruchtbarsten Böden der Welt zählt, mehrere Millionen Menschen verhungerten?
Ein normaler Abend im „Kavkas“ am unteren Ende des Kreschtschatik, Kiews Broadway und Champs Elysées in einem. Zu normalen Preisen gibt es, unter den Bommeln und Tuschezeichnungen eines früheren Inhabers, gutes Essen mit kaukasischem Einschlag. Eine computerisierte Drei- Mann-Combo spielt laut unter unrhythmisch aufleuchtenden bunten Lampen. Frauen scheinen das Lokal besonders zu mögen, an mehreren Tischen sitzen sie paarweise. Ein jüngeres, in adrett-grünem Kleid die eine, in weißer Bluse und schwarzer Hose die andere, legt plötzlich los, tanzt heftig, jede für sich. Dann holt sich eine der beiden einen jungen Mann vom Nachbartisch, der aber, außer Atem, bald wieder ausscheidet. Zwei andere, durchaus gesetzte Ladies, fühlen sich gefordert und erobern das Parkett, was wiederum einen der Musikanten zum Balztanz treibt, mit akrobatischen Einlagen. Dann stiehlt der so betanzten Lady eine Junge in bauchfreiem T-Shirt mit einem anderen aus der Band die Show.
Kiews Gastronomie paßt sich den Zeitläufen an: Mit solchen Stätten moderaten Lebensgenusses, mit effektiv-eleganten Bistros und tief unter der Erde ans Höhlenkloster Lavra erinnernden Cafés, mit postkommunistischen Selbstbedienungskantinen und aufgemotzten „Studios“, die Seafood für die expandierenden Experten, andere Ausländer und ukrainische Reiche einfliegen. Über diesem Modernisierungsgewusel aber, auf dem Hügel am Unabhängigkeitsplatz, schwebt, protzt spätstalinistisch das Hotel „Moskwa“. Im durchaus besuchten Restaurant trifft man altmodisch freundliche Bedienungen, die Preise sind niedrig. Der Blick geht auf St. Sophia, die Kiewer Kirche aus dem 11. Jahrhundert, deren goldene Kuppel alle Ergebnisse kommunistischen Bauens ringsum fast höhnisch überstrahlt. Die unten durch die Schlucht des Kreschtschatik wehenden Veränderungswinde erreichen das „Moskwa“ und St. Sophia kaum.
„Eine herrliche Stadt, eine glückliche Stadt ... Sie ist jetzt erschöpft nach den furchtbaren Donnerjahren ... Aber ich höre schon das Vibrieren des neuen Lebens. Die Stadt wird ausgebaut werden, ihre Straßen werden wieder brodeln“, schrieb Bulgakow 1923.
Wieviel die westliche Waschmaschine da im Schaufenster koste, fragt ein junger Mann, ob die lange Zahlenangabe 1.500 Dollar bedeuten könne. Dann lacht er nur: „Mama mia!“ Aber ein Freund betont angesichts der sich vor einem Denkmal fotografierenden Leute, daß vor fünf Jahren noch der schiere Gedanke an eine japanische Kamera abwegig gewesen sei. Heute hingegen sei deren Besitz für viele schon selbstverständlich. Jeden Tag könne er irgendeinen Fortschritt feststellen. Aber im Kommunismus sei auch nicht alles schlecht gewesen: ein sicherer Arbeitsplatz, keine Chefs, deren Laune von der Ehefrau abhängt, klarere Verhältnisse einfach. Er hatte – lange vor dem Systemwechsel – Englisch studiert, dann in Forschungsinstitutionen und staatlichen Firmen und nebenher als Übersetzer für Verlage gearbeitet. Am Tag führte er, wie er sagt, ein kommunistisches Leben und abends ein kapitalistisches. Nach der Wende wurde er Computerspezialist, er wechselt jetzt manchmal die Companies.
Bei einem Spaziergang am Andriewski-Steig, Kiews Touristenmeile mit Montmartre-Touch, prügeln sich Bandenmitglieder, es sieht etwas bedrohlich aus, aber die Polizei zu holen erscheint dem Freund abwegig. Ihm sei von Jugend auf beigebracht worden, den Kontakt zur Polizei zu meiden. Noch immer sei sie korrupt. Autodidaktisch hat er, Kiewer jüdischen Glaubens, so gut Deutsch gelernt, daß er in Joseph Roths Romanen seiner Nostalgie für das Habsburger Reich frönen kann. Die Wende ließ seine Neugier auf die Welt erwachen. Doch der Einladung eines in den USA lebenden Verwandten konnte er nicht folgen. Trotz vollständiger Unterlagen bekam er kein Visum.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen