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Der Fall Dutroux macht den Opfern Mut

■ Ein Lehrer in einer französischen Kleinstadt gesteht, dreißig Jahre lang Schüler vergewaltigt zu haben. 60 mittlerweile erwachsene Männer erstatten Anzeige

Paris (taz) – Das Schweigen über den Schrecken hielt 30 Jahre. So lange konnte ein Lehrer in der zentralfranzösischen Kleinstadt Cosne-Sur-Loire unbehelligt Dutzende von Kindern vergewaltigen. Erst die späte Anzeige und der Selbstmord eines seiner mittlerweile erwachsenen Opfer machte Anfang des Jahres die Behörden aufmerksam. Seither haben 60 weitere Männer Anzeige erstattet. Ende vergangener Woche wurde der 59jährige Lehrer verhaftet. Er hat ein Geständnis abgelegt.

In dem zwei Autostunden südlich von Paris gelegenen 12.000-Einwohner-Ort kennt jeder den Lehrer Jacques K. Nicht nur, weil er bis zu seiner Pensionierung im Jahr 1993 Generationen von Kindern unterrichtete, sondern auch, weil er zahlreiche Freizeitaktivitäten anbot. Jacques K. war Betreuer im Billard-Klub, im Karate- Klub und im Gymnastik-Klub. Er nahm Kinder mit zum Pilzesuchen und lud sie zum Fischen in seinem Teich ein. In Cosne-Sur-Loire hatte man Vertrauen zu ihm.

Die Journalisten, die seit dem Wochenende in dem „Ort ohne Geschichten“ eingefallen sind, hören dort Berichte über einen „höflichen“ und „allseits geschätzten“ Mann. Ein Foto neueren Datums zeigt einen freundlich lächelnden Herrn in Sportschuhen und Shorts, der einen Riesenkarpfen hochhält. Von seinen pädophilen Neigungen will niemand etwas geahnt haben, weder die Kollegen noch Eltern, Ärzte, Psychologen, Beichtväter und Vereinsbrüder. Auch seine Gattin, Lehrerin an derselben Schule, und seine beiden erwachsenen Söhne erklären den Medien, nichts gewußt zu haben. Lediglich der Schwager sagte am Wochenende: „Jacques ist als kleiner Junge vergewaltigt worden. Seither funktionierte nichts mehr richtig in seinem Kopf.“ Zu dem Gerücht, daß vor 15 Jahren einmal Ermittlungen gegen Jacques K. wegen Pädophilie im Keim erstickt wurden, hat sich die Justiz bislang nicht geäußert.

Der pensionierte Lehrer, dessen letzte Sexualverbrechen nur wenige Wochen zurückliegen sollen, wird als systematischer, ordentlicher Mann beschrieben. „Vielleicht war er ein bißchen zu penibel“, heißt es in dem Billard-Klub, der ihn vor drei Jahren zum Präsidenten wählte. Als Lehrer galt er als unauffällig. Gelegentliche Schläge mit dem Lineal auf die Finger seiner Schüler fand niemand beunruhigend.

Der schwerwiegendste bekanntgewordene Fall von Pädophilie in Frankreich kam im Januar ins Rollen. Damals hatte der 27jährige Polizist Thierry Deabin seinen Eltern und der Polizei eröffnet, er sei im Alter von acht bis zwölf Jahren regelmäßig von Jacques K. vergewaltigt worden. Wenig später nahm der junge Mann sich mit einer Überdosis an Barbituraten das Leben und hinterließ als Erklärung den Namen seines einstigen Lehrers. Erst danach begann die Polizei mit der systematischen Befragung von Tausenden Jugendlichen und Erwachsenen, die mit Jacques K. Kontakt gehabt haben. Möglicherweise, so verlautet aus dem Umfeld der Ermittler, sind die bisherigen Anzeigen nur die Spitze des Eisbergs.

Gleichzeitig mit dem Lehrer von Cosne-Sur-Loire wurden in Frankreich drei weitere mutmaßliche Sexualverbrecher an Kindern verhaftet: ein Chorleiter in Paris, ein Sportlehrer in Nizza, ein Behindertenerzieher in Pau. Überall kamen die Ermittlungen nach den Anzeigen von Opfern in Gang. Psychologen sprechen bereits von einem „Dutroux“-Effekt. Danach helfen die Berichte über die Verbrechen in Belgien auch Pädophilie-Opfern in Frankreich, ihr Schweigen zu brechen.

Anfang dieses Jahres hatten die französischen Behörden eine Gratis-Notrufnummer „Mißhandelte Kindheit“ eingerichtet. Jetzt, da das Thema Pädophilie erneut in der öffentlichen Debatte ist, fordern Experten die Erwachsenen zu „Wachsamkeit“ auf. Zugleich warnen sie vor dem Aufkommen einer Paranoia, die überall Sexualverbrecher wittert. Dorothea Hahn

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