Groschenroman im Internet

Die erste nichtkommerzielle Soap-opera für Internet-Surfer: Drei Computerfans erfinden jede Nacht Geschichten um Valerie, Roman und ihre „Kleine Welt“  ■ Von Tilman Baumgärtel

Im Badezimmer liegt neben einem Föhn und einer Tube mit Feuchtigkeitscreme eine Ausgabe der Zeitschrift „PC-Online“ auf dem gefliesten Boden. Auf der Wohnzimmercouch lagern Kissen, Stofftiere und ein externes Diskettenlaufwerk. In der Schrankwand neben dem Computer stapeln sich außer Büchern und Videokassetten jede Menge CD- ROMs und Disketten; auf dem Teppichboden davor mümmelt ein graues Kaninchen vor sich hin.

Kein Zweifel, hier sind wir in der Wohnung eines richtigen „Geek Girls“ – so wird im Hacker- jargon eine weibliche Computer- „Häckse“ genannt.

Die Wohnung von Andy Pawlowski, in der Computerkram und Haushaltsgegenstände eine so friedliche Koexistenz pflegen, liegt im fünften Stock eines Wohnhauses aus den fünfziger Jahren in Berlin-Wilmersdorf, das von außen nicht besonders spektakulär aussieht. Doch abends, wenn die zierliche Frau mit den kurzen, blondierten Haaren von ihrer Arbeit als Produktionssekretärin bei einer Filmfirma nach Hause gekommen ist, spielen sich hier kleine und große Dramen ab: Mal ist Geld geklaut worden, mal wird jemand von Schlägertypen verdroschen, weil er seine Spielschulden nicht zurückzahlen kann, mal ist nur der Kühlschrank leer gefressen worden, und keiner will's gewesen sein.

Denn nach Dienstschluß arbeitet Pawlowski an einer eigenen Daily Soap mit. Die läuft allerdings nicht im Fernsehen – sondern im Internet.

„Kleine Welt“ heißt die erste deutsche Cybersoap, die mit richtigen Darstellern Tag für Tag neue Abenteuer auf einer eigenen Seite im World Wide Web zeigt, der grafischen Oberfläche des Internet. Als gäbe es im Fernsehen nicht schon genug Seifenopern, tauchen die täglichen Minidramen nun auch im Netz auf. Bereits seit einem Jahr ist die amerikanische Internetserie „The Spot“ auf Sendung, in Deutschland gibt es seit einigen Monaten die „Heldenfußallee“ — die Namenverwandtschaft mit einer bekannten ARD-Serie ist wahrscheinlich reiner Zufall.

Während bei „Heldenfußallee“ das Publikum durch E-Mails den Gang der Handlung mitbestimmen kann, gibt es bei „Kleine Welt“ eine feste Story, die täglich fortgesetzt wird: In einer Berliner WG kommen fünf – man ahnt es schon – vollkommen unterschiedliche Charaktere zusammen: Die adelige Valerie, der „hyperkorrekte“ Polizist Sven, die Szenefrau Connie, der Macho Roman, die Krankenschwester Alex, und dann ist da noch dieser Hausmeister, Herr Schlüter. Unter diesen Protagonisten dürfte es in der nächsten Zeit reichlich Stoff für Irrungen, Wirrungen und erotische Abwege geben.

Jeden Tag können die Internet- Surfer im Tagebuch einer der Hauptfiguren mitlesen, was wieder Aufregendes passiert ist in der „Kleinen Welt“. „Dadurch können Ereignisse aus verschiedenen Blickwinkeln erzählt werden“, erklärt Andy Pawlowski, „was der eine toll findet, ist für einen anderen vielleicht entsetzlich.“

Während sich Valerie in ihren ersten Tagebucheintragungen in der neuen WG an Fontane erinnert fühlt, kommt es Roman vor, als sei er in einem „irregeleiteten soziologischen Experiment“ gelandet. Dazu gibt es Fotos, auf denen wir sehen, wie sich Valerie und Sven auf der Couch im Wohnzimmer herumlümmeln oder wie Roman im Hinterhof verprügelt wird — der geübte Soap-opera-Fan ahnt es bereits: Persönliche Probleme könnten hier bald zu Drogenmißbrauch führen!

Produziert wird „Kleine Welt“ von drei Leuten in drei Städten. Während sich Andy Pawlowski in Berlin um die Public Relations und die Produktionskoordination kümmert, sitzt der Autor Rainer Stenzenberger in Wiesbaden, der Programmierer und Designer Christof Kaiser in Paderborn. Die gesamte Produktion läuft über das Internet.

„Christof habe ich bis heute nicht persönlich getroffen“, erzählt Pawlowski, „obwohl wir täglich am Telefon und per E-Mail in Kontakt sind.“ Den Drehbuchschreiber Stenzenberger hat sie virtuell im Filmforum des Online-Dienstes CompuServe kennengelernt. Der Computer, von dem die „Kleine Welt“ für Internet-Surfer in der ganzen Welt abrufbar ist, steht in den USA; die Firma, der dieser „Server“ gehört, sitzt in München.

Irgendwo dazwischen entsteht jeden Tag eine neue Folge von „Kleine Welt“ im Internet, dem internationalen Computernetzwerk, das Rechner in der ganzen Welt miteinander verbindet. Und obwohl die ganze Geschichte sich nur virtuell, als Bits und Bytes in dem immateriellen Raum der Datenkommunikation abspielt, spricht Andy Pawlowski manchmal über die Hauptdarsteller, als seien sie richtige Menschen: „Alex glaubt an Esoterik und dieses ganze Zeugs“, sagt sie dann. Oder: „Obwohl Roman ein Intellektueller ist, läßt er gerne den Macho raushängen. Eigentlich sieht er auf die anderen Leute in seiner WG herab.“

Alle zwei Monate ist Fototermin in der „wirklichen Welt“ in der Wohnung eines Freundes von Andy Pawlowski. Dann kommt auch Autor Stenzenberg aus Wiesbaden nach Berlin, erklärt den Darstellern, was in den nächsten Folgen passieren wird. Und dann wird für den Fotografen posiert. „Obwohl es nur Fotos sind, schauspielern die richtig vor der Kamera“, sagt Pawlowski.

Auf die Idee, eine eigene Internet-Soap in Deutschland zu produzieren, kamen Pawlowski und Stenzenberger Anfang dieses Jahres. Mit Anzeigen im Berliner Stadtmagazinen suchten sie Darsteller für ihre Soap, Ende Februar war das Casting, bei dem die Hauptdarsteller ausgewählt wurden. Am 22. März ging das Projekt ans Netz.

Inzwischen haben über 25.000 Internet-Surfer die „Kleine Welt“ besucht, obwohl es so gut wie keine Vorabwerbung gegeben hat. Der intellektuelle Macho Roman hat sogar schon Fanpost bekommen. „Aber die kam von einem Computer in der Humboldt-Uni, wo der Roman-Darsteller studiert“, erzählt Pawlowski. „Ich glaube, das waren seine Kommilitonen.“

Zur Erstellung der Cybersoap braucht jeder der drei Produzenten nicht mehr als einen handelsüblichen Computer, ein ISDN- Modem und das nötige Kleingeld für eine dicke Telefonrechnung und die Gebühren des Internet- Providers. Das ist die Firma, die „Kleine Welt“ auf ihrem Rechner zugänglich macht. „Bisher ist das ein No-budget-Unternehmen. Wenn man sich die Unkosten zu dritt teilt, kann man sich das aber von einem normalen Gehalt gut leisten“, sagt Pawlowski und dreht sich dabei auf einem Drehstuhl vor ihrem Computermonitor hin und her. „Man darf halt nicht noch nebenher Paragliding machen.“

Was Bertolt Brecht in den zwanziger Jahren vom Radio erhoffte, ist in den letzten zehn Jahren durch das Internet Wirklichkeit geworden: Im Netz kann jeder vom Medienkonsumenten zum Produzenten werden. Daß drei Leute in verschiedenen Städten in ihren Wohnzimmern in ein paar Monaten eine Soap-opera auf die Beine stellen, die vom ersten Tag an von „Onliner“ rund um den Globus gesehen wird, das hat erst das Internet möglich gemacht.

Während Massenmedien wie Radio und Fernsehen eine Botschaft an ein möglichst großes Publikum verbreiten müssen, können im Internet alle mit allen kommunizieren. Mit etwas technischem Know-how und einem PC für zwei-, dreitausend Mark kann jeder Mensch seine mediale Produktion einem Weltpublikum zugänglich machen. Egal ob es philosophische Abhandlungen sind oder politische Manifeste – oder eben eine Seifenoper.

Irgendwann, so hofft Andy Pawlowski, kann man mit dem Groschenroman im Internet vielleicht sogar Geld verdienen: „Wir würden gerne Werbeflächen auf unserer Homepage verkaufen“, sagt sie, „aber bevor wir uns an Unternehmen wenden, müssen wir erst einmal sagen können, wie viele Leute sich ,Kleine Welt‘ pro Tag ansehen.“ Weil die meisten deutschen Onliner unter dreißig sind, denkt sie an Werbung für eine junge Zielgruppe, zum Beispiel für Energy-Drinks, Trendklamotten oder Zigaretten. Dann wären nicht nur Anzeigen-„Banner“ auf der Internetseite möglich, sondern auch Product placement: „Wir sind für alles offen.“

Bis die Reklamegelder fließen, arbeiten alle nachts und umsonst für die Cybersoap und behalten bis auf weiteres ihre Tagesjobs: Autor Stenzenberger ist tagsüber kaufmännischer Angestellter, Programmierer Kaiser studiert Informatik. Auch die Akteure in „Kleine Welt“ studieren tagsüber oder arbeiten im Büro. Mitspielen tun sie aus Spaß an der Freude: Beim ersten Fototermin wurden die Telefonnummern ausgetauscht, „inzwischen sind die schon enttäuscht, wenn sie zu lange auf das nächste Shooting warten müssen“, sagt Andy Pawlowski.

Die Darstellerin der Alex ist die einzige professionelle Schauspierlrin in „Kleine Welt“ und macht auch deshalb mit, weil sie hofft, im Internet für Fernsehrollen entdeckt zu werden.

„Wir können zwar nichts bezahlen“, gibt Pawlowski zu, „aber dafür haben die Darsteller die Chance, durch dieses Projekt sehr schnell bekannt zu werden. Bei der Lindenstraße dürfen neue Schauspieler beim ersten Mal im Hintergrund mit einer Brötchentüte durchs Bild laufen – und sind noch stolz darauf.“

Die Internetadressen der Cyber- Seifenopfern:

Kleine Welt

http://www.kleinewelt.com

The Spot http://www.thespot.com

Heldenfußallee

http:/ www.heldenfussallee.de