Die Welt in einer 15tel Sekunde

■ Elegant, graphisch, hyperventilierend: Fotografien von William Klein in den Deichtorhallen

Irgendwie muß die Welt reinpassen. In dieses merkwürdig gierige Objektiv. Also Weitwinkel. Die Blende auf bis zum Anschlag. Eine abendfüllende Belichtungszeit. Dann mitten rein. In die Umkleidekabinen der Models, backstage von Boxkämpfen und Rockkonzerten oder einfach ins Gewühl auf der Straße. Und jetzt geschieht jedesmal etwas Sonderbares. William Klein, der Mann mit der Kamera, der, der sich da zwischen die Passanten drängelt, der seine menschlichen Motive nicht selten aus nächster Nähe anvisiert, wird unsichtbar. Niemand nimmt den Gaffer hinterm Sucher wahr. Keine Posen, keine Scham. Tarnkappengeschützte Blicke, in denen Szenen so authentisch anmuten, daß sie schon in eine Art magischen Realismus kippen.

Ob die berühmte Raucherin oder das Pferd, das ausgerechnet vor einem Steakhaus tot umfällt, die Fotografien des New Yorkers sind elegant, graphisch und lieben Pointen. Absichtliche Unschärfen und schattenhafte Figuren, zielsicher in den Vordergrund gestellt, akzentuieren einen „style noir“, der seit Robert Frank zum Bestandteil der Fotogeschichte und - ästhetik wurde und bis in die Videoclips der 80er immer wieder eifrige Kopisten fand.

Auch Kleins Anfänge, technisch noch ahnungslos, aber von der eigenen Neugier beseelt, hyperventilieren bereits. Seine Großstadt-Bilder aus den 50ern werden zwar nie so manisch wie die aus der Hüfte geschossenen Fotos Weegees, nie so poetisch wie Henri Cartier-Bressons Momentaufnahmen, aber sie feiern begeistert ihre eigene Anarchie. Zum Teufel mit Goldenem Schnitt und Tiefenschärfe. Kein sortiertes Chaos, keine humanistische Sicht bricht das zufällig Gesehene um ins Symbolische.

Klein, Jahrgang 1928, wächst als Sohn armer ungarischer Juden auf. Er zieht nach Paris und erprobt sich in geometrischer, abstrakter Malerei. Nach Ausstellungen in Brüssel und Mailand kehrt er nach New York zurück, experimentiert mit fotografischen Glasplatten und wird von Vogue unter Vertrag genommen. Als Modefotograf und als Antwort auf Richard Avedon, dem berühmten Kollegen bei Harper's Bazaar. Hob Avedon ungespreizte Lebendigkeit auf die Hochglanzseiten, war es bei Klein vor allem großzügig dosierte Provokation. Er ließ die Mannequins durch Verkehrschaos flanieren, modellierte sie als anämische Mode-Androiden und zeigte dem ganzen Zirkus mit seinem Film Who are you Polly Maggoo eine letzte lange Nase zum Abschied.

Ende der 60er Jahre fängt Klein an, Kontaktstreifen zu übermalen und macht es bis heute. Fotos sind ihm Arbeitsmaterial geworden. Ganz so, als hätten sie ausgedient als Indiz für den einen entscheidenden Augenblick, den er jetzt sabotiert und in seiner Unvollkommenheit preisgibt, in dem er ihn mit roter Farbe durchstreicht und das Nachbarfoto aufwertend umrahmt. Die eine gefundene Gebärde, die eine echte Sekunde hinter dem Catwalk, sie bedeuten keine Welt mehr. Trotz ihrer Lauterkeit, der grundlegenden Melancholie, die sich dahinter ahnen läßt, reichen die späten Arbeiten doch nie an die Effektsicherheit der frühen S/W-Bilder. Hier konnten Tragik und Lächerlichkeit in einem Bild kollabieren. Und manchmal stand einfach die Welt still . Für eine 15tel Sekunde. Birgit Glombitza

bis 17. August, Deichtorhallen