: Atatürk als Gegenpol zu den Islamisten
Die innenpolitische Zuspitzung zwischen islamischen und laizistischen Kräften in der Türkei bewegt auch junge Türken in der Stadt. Staatsgründer Mustafa Kemal „Atatürk“ wird zur neuen Identifikationsfigur für Berliner Türken ■ Von Dorothee Winden
Güray Kismir hat vor zwei Wochen spontan ein Bild von Atatürk im Büro aufgehängt. Es ist ein ungewöhnliches Foto: Der Begründer der türkischen Republik sitzt im Anzug unter einem Baum, im Schneidersitz, die Socken sind runtergerutscht. „Mir gefällt es, weil er so menschlich wirkt und nicht als unnahbarer Soldat dargestellt ist“, sagt der 21jährige Student. Bilder von Mustafa Kemal, der später den Beinamen Atatürk – Vater der Türken – erhielt, hängen in jeder Dönerbude. Daß er jetzt auch in das studentische Büro des Türkischen Wissenschafts- und Technologiezentrums (BTBTM) an der TU Einzug hält, ist ein Anzeichen dafür, daß die innenpolitische Polarisierung in der Türkei auch die ImmigrantInnen der zweiten Generation bewegt.
Im Büro des Wissenschaftszentrums sitzen an diesem Abend auch die Politologiestudenten Süleyman Artiisik und Evren Özgüvenc und diskutieren. „Vor zwei, drei Jahren habe ich mich nicht für türkische Politik interessiert“, sagt der 23jährige Süleyman Artiisik. Aber das habe sich geändert, seit die islamische Wohlfahrtspartei an der Regierung beteiligt sei. Bei der politischen Konfrontation zwischen Islamisten, die in der Türkei das islamische Recht einführen wollen, und den sogenannten „Kemalisten“, die an der Trennung von Staat und Religion festhalten, gehe es „ans Eingemachte“. Die Zukunft der Türkei steht auf dem Spiel, betont sein Komilitone Evren. Zwar demonstrieren hierzulande weder die Befürworter einer demokratischen Türkei noch die Anhänger eines islamischen Staates. Doch Diskussionsthema ist die innenpolitische Krise überall.
Auch an der TU macht sich der wachsende Einfluß der islamischen Studentengruppen bemerkbar. Vor einigen Jahren schon setzten sie durch, daß in der Universität ein Gebetsraum eingerichtet wird. Bei den Wahlen zum Studentenparlament erzielte die Liste der islamischen Gruppen, die als „Internationale Liste“ auftritt, 1996 drei Sitze. Die sozialdemokratisch orientierte Liste des BTBTM und eine linke Ausländerliste errangen jeweils nur einen Sitz. 1982 hatte der BTBTM noch drei Sitze im Studentenparlament. Liberale Migranten beobachten, daß die Zahl der türkischen Muslime zugenommen hat, die am Freitagsgebet teilnehmen. In den 50 Berliner Moscheen versammeln sich nach Angaben aus Islamistenkreisen rund 15.000 Menschen – also zehn Prozent der türkischen Migranten. Der überwiegende Teil will nur seine Religion ausüben. Doch die Islamisten versuchen, ihre Einflußsphäre zu erweitern. „Wenn der Islam in deutschen Medien negativ dargestellt wird, schließen sich die Leute eher den islamischen Vereinen an“, beschreibt ein Islamist den Solidarisierungseffekt bei gläubigen Muslimen, die mit dem politischen Islam an sich nichts zu tun haben. „Wenn der Druck zunimmt, ist es leichter, neue Mitglieder zu werben.“
Seit einigen Jahren schon betreiben die islamischen Vereine Jugendzentren. Damit werde Jugendlichen, die nicht in Diskotheken gehen, ein Treffpunkt angeboten. Dort können sie Billard und Schach spielen oder auch Dart und Tischfußball; Alkohol wird nicht ausgeschenkt.
Liberale Migrantenorganisationen wollen den Islamisten nicht das Feld überlassen. Sie schaffen nun ihrerseits verstärkt Freizeitangebote. Und auch ideologisch machen die Anhänger einer laizistischen Türkie mobil. Im Januar hat sich ein „Verein zur Unterstützung des Gedankengutes von Kemal Atatürk“ gegründet. Zu den Mitbegründern gehören vor allem AkademikerInnen der ersten Einwanderergeneration. „Ich dachte nie, daß die Türkei in eine solche Lage kommt“, sagt Mitbegründer Ali Uras. „Wir müssen die Reformen Atatürks verteidigen.“ Die Ideen des Staatsgründers will der Verein vor allem den Jugendlichen näherbringen: Atatürk führte das Frauenwahlrecht ein und sorgte nicht zuletzt mit der Einführung der lateinischen Schrift für eine Westorientierung der Türkei. Seit 1989 gibt es in mehreren bundesdeutschen Städten solche Vereine. In Köln und Hannover betreiben sie auch Jugendzentren. Das ist auch das Ziel des Berliner Vereins, Räume hat man allerdings noch nicht.
Aber kann man Jugendliche heute für einen Staatsgründer begeistern, der wie eine mythische Heldengestalt verehrt wird? Zumal Atatürks Lehren in der Türkei Pflichtfach sind und Schüler seine berühmte „Rede an die Jugend“ eher widerwillig auswendig lernen? Doch für die jungen Deutschtürken ist der Mann, der Anfang der 20er Jahre den türkischen Unabhängigkeitskrieg gegen britische, französische und italienische Truppen gewann, durchaus eine Identifikationsfigur: „Er war ein Revolutionär, der seiner Zeit voraus war“, sagt Güray Kismir. Daß er mit der Schaffung eines türkischen Nationalstaates im Vielvölkerstaat Türkei den Boden für die heute zutage tretenden ethnischen Spannungen geschaffen hat, sieht er durchaus kritisch. Heute werde Atatürk aber zu Unrecht von Nationalisten vereinnahmt. Der 21jährige plädiert für eine Weiterentwicklung des Kemalismus: „Wir müssen auf seiner Basis weiterkommen.“
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