■ Erste Erfahrungen mit der Bastelanleitung zum Gutsein aus dem Comic-Heft
: Der Micky-Maus-Kummerkasten von Bad Grund

Haben Bücher Folgen? Immer wieder und in mittlerweile 120 Staaten wird der „Tag des Buches“ begangen, und immer wieder wird eine Chance vertan. Weder Lehrer noch Buchhändler verteilen Gratisproben; niemand bietet „Drei Tage Schnupperlesen“ als Kursus an; auf Preisausschreiben, deren Hauptgewinn „Verbringen Sie einen Tag mit einem Schriftsteller Ihrer Wahl!“ heißen könnte, wird verzichtet.

Dabei ist alles so einfach. So ungefähr 1957 war es, es war in Bad Grund, und wir lasen „Micky Maus“. „Natürlich!“ sagen Sie? Natürlich nicht natürlich, mußten doch die 75 Pfennig für das Heft den Eltern abgetrotzt werden, denn Comics waren aus „Amerika“ und machten blöde. Das ging so bis zu dem Tag, da in der „Micky Maus“ dazu aufgerufen wurde, Micky-Maus-Klubs zu gründen. Wir kommen auf die Eingangsfrage zurück: Bücher (und Hefte) haben Folgen! Sie veredeln den Menschen, sie ermahnen ihn, für den anderen dazusein. Und also gründete sich der Micky-Maus- Klub Bad Grund/Oberharz und schritt zu guten Taten.

Die Hefte leisteten für die angehenden Gutmenschen Hilfestellung. Sie enthielten nicht nur eine Bastelanleitung für einen sog. „Kummerkasten“, den wir schleunigst mit Laubsäge und Sperrholz herstellten; sie brachten auch eine fortlaufende Serie „Ich lerne Kisuaheli“. (Schließlich müsse ein Klub auch interne Dinge bereden, und dafür sei eine Art Geheimsprache am geeignetsten.) Kisuaheli also sei ein „Negerdialekt“, der sich dadurch auszeichne, daß man ihn fast überall in Afrika verstünde. Wir waren beeindruckt. Unsereiner hatte schon hinter dem Brenner arge Schwierigkeiten; Afrika hingegen war viel größer, und die Vorstellung, ein Neger aus z.B. Südafrika und einer aus Nordafrika träfen sich, meinethalben am Kongo, und würden sich sofort ohne Verständigungsschwierigkeiten über die Löwenjagd austauschen können – diese Vorstellung imponierte uns ungemein. An der Sprache mußte was dran sein! Außerdem, so die Redaktion, sei sie sehr leicht zu lernen. Das wunderte uns schon mal überhaupt nicht; ich sage nur: Afrika! Ich kaufte mir also ein Vokabelheft und trug fortlaufend ein.

Der Klub hatte seine Geheimsprache, und er hatte sein Ziel. Wie aber sollte die Bevölkerung von Bad Grund von unserer Existenz erfahren? Das Heft half: Es galt, den Kummerkasten an einem zentralen Ort anzubringen, ihn mit einer entsprechenden Aufschrift zu versehen und darauf zu warten, daß Omas uns auffordern würden, Gutes zu tun: Kohlen tragen, einkaufen, Hunde ausführen etc. Und dann würden sie es weitererzählen, und der Ruf des MMK würde sich über Bad Grund und den Oberharz ausbreiten und... Bei der Frage aber, wo der Kasten hinkommen sollte, ging eine Diskussion los (diesmal nicht in Kisuaheli), die den Klub erschütterte.

Das Spaltertum erhob sein häßliches Haupt. Die Älteren waren für das örtliche Kino; da waren aber keine Omas, unsere Zielgruppe und erhofften Multiplikatoren. Andere (ich vermute, die Mädchen) plädierten für das Café Bierhanze – wahrscheinlich, weil dort der erste Hauch von Rebellion (Mopeds! Musikbox!) in den Ort wehte und die Jungs dort langfristig vielversprechender schienen als die Klubmitglieder. Wir einigten uns auf etwas, das ich im nachhinein als kleinsten gemeinsamen Nenner interpretiere. Die Sozialdemokratie hatte sich durchgesetzt: Der Kummerkasten ging vor das Postgebäude.

Der Rest ist schnell erzählt. Niemand warf auch nur ein Briefchen in den Kasten. Niemand wollte, daß man ihm Gutes tue. Der Kummerkasten wurde demoliert – wahrscheinlich von jugendlichen Gästen aus dem Café Bierhanze. Meine alten Micky-Maus-Hefte gingen verloren; ich hatte sie dem Klubmitglied Thomas Schallert geliehen, der nach Hildesheim umzog. Später behauptete seine Mutter, die Hefte seien beim Umzug „verlorengegangen“. Ein Kontakt (sog. Vernetzung) zu anderen Klubs war nie zustande gekommen; vielleicht war der Oberharz, der an Ödnis Ostwestfalen weit übertrifft, kein gutes Terrain. Der Klub siechte dahin; irgendwann gab es ihn einfach nicht mehr. Was also bleibt?

„Carl Barks und Erika Fuchs züchteten den Geschmack von Millionen Kindern im Westen Deutschlands hoch und aufs höchste“ (Gerhard Henschel). Was war der MMK? Zum einen, und hier ist Henschel recht zu geben, er war ästhetische Avantgarde. Aber es ging um mehr. Hier gaben sich multikulturelle Praxis (noch heute könnte ich einen dunkelhäutigen Menschen salopp mit „Guten Tag!“ und „Wie geht's?“ in Kisuaheli ansprechen), deutsches Vereinswesen und Kommunitarismus die Hand. Es verwundert nicht, daß die Micky-Maus-Klubs nicht lange existierten; sie teilten das Schicksal aller großen Ideen, deren Zeit noch nicht reif war. Die Grünen sollten erst Jahrzehnte später gegründet werden. Peter Sinram