■ Die Krise verändert unseren Begriff von Gerechtigkeit. Es geht weniger ums Geld und mehr um Chancengleichheit: Die Gerechtigkeitsfalle
Ab einem Verdienst von 2.000 Mark brutto, so der TV-Entertainer Harald Schmidt, sei im Grunde doch jeder „zynisch“, „denn er weiß, irgendwie ist es nicht ganz okay, aber er macht halt mit“.
Schmidt stellt eine Kernfrage: Ist es eigentlich gerecht, daß der durchschnittliche Westangestelltenhaushalt mehr als 5.000 Mark netto im Monat ausgeben kann, Arbeitslose gleichzeitig mit 1.600 Mark über die Runden kommen müssen? Und in Kambodscha der Fabrikarbeiter nur 50 Mark im Monat verdient? Die meisten Deutschen würden wohl sagen: Ja, es ist gerecht. Denn irgendwo muß die Ungleichheit anfangen. Tja, wo aber genau? Das ist eine Frage der geltenden Gerechtigkeitsnormen, und die werden angesichts der Globalisierung und Massenarbeitslosigkeit stillschweigend neu definiert.
Wenn ein möglichst geringes Gefälle der Einkommen eine möglichst gerechte Gesellschaft bedeutet, dann geht es in Deutschland, genauer gesagt in Westdeutschland, heute ungerechter zu als noch vor fünf Jahren. Die Armutsrate ist laut Wirtschaftsinstitut DIW gestiegen. Der Anteil der Vermögenszuwächse ist bei den besserverdienenden Haushalten gewachsen, bei den ärmeren Haushalten dagegen gesunken. Die Einkommensungleichheit in Westdeutschland ging während des wirtschaftlichen Aufschwungs zwischen 1985 und 1990 leicht zurück und nahm während des Abschwungs bis zum Jahre 1995 wieder zu. Die früheren, „gerecht“ erscheinenden Einkommenszuwächse besonders der breiten Mittelschicht waren vor allem dem allgemeinen Zuwachs an Arbeit und Wohlstand in Westdeutschland geschuldet.
Was bisher in Deutschland allgemein als „gerecht“ bezeichnet wurde, funktioniert nicht mehr angesichts der Globalisierung und des Beschäftigungsabbaus. Der Streit um die Spitzensteuersätze beweist das. Nach dem Gerechtigkeitskonsens der 70er und 80er Jahre wäre es jetzt fair, bei den Hochverdienern abzuschöpfen, um Kürzungen bei den Arbeitslosen zu vermeiden. Aber ein hoch verdienender Freiberufler muß steuerlich annähernd gleich behandelt werden wie etwa ein Bauunternehmer. Und der schafft Jobs und soll wenig belastet werden. Der Höchstsatz auf gewerbliche Einkünfte müsse gesenkt werden, „um den Unternehmen im internationalen Standortwettbewerb vergleichbare steuerliche Rahmenbedingungen zu geben“, heißt es im Regierungsbeschluß zur Steuerreform. Arbeitsplätze sind das Faustpfand der Unternehmer im Verteilungsstreit.
In Zeiten der Globalisierung landet der Umverteilungsstreit damit in einer politisch konstruierten „Gerechtigkeitsfalle“: Wird nicht materiell umverteilt, nehmen die Ungleichheiten im Inland weiter zu. Wird materiell umverteilt durch hohe Steuern und Abgaben, drohen die Arbeitgeber mit Jobabbau und Rückzug ins Ausland. Was wie naturgegeben wirkt, ist tatsächlich eine Frage des politischen Willens auf internationaler Ebene. Theoretisch könnten steuerliche und soziale Mindeststandards zumindest auf EU-Ebene den Standortwettbewerb entschärfen. Solche Regelungen sind fürs erste nicht zu erwarten.
Angesichts der Globalisierung und der Beschäftigungskrise stellt sich daher auf nationaler Ebene die Verteilungsfrage neu. „Versuche der Umverteilung von Vermögen und Einkommen durch fiskalische Maßnahmen und herkömmliche Sozialsysteme haben alles in allem nicht funktioniert“, behauptet der britische Soziologe Anthony Giddens. Sein Kollege Ralf Dahrendorf ergänzt: „Ungleichheit ist erträglich, wenn es keinen Ausschluß aus der Gesellschaft gibt.“
Nach dieser Logik ist die direkte materielle Umverteilung nicht mehr das erklärte politische Ziel. Was den Leuten angst macht, ist das Risiko, in Arbeitslosigkeit und Armut abzustürzen. Der künftige Gerechtigkeitsstreit dreht sich daher weniger um die Umverteilung von Wohlstand als um die Verteilung der Zugänge zum Wohlstand und einem annehmbaren Lebensstandard. Was zählt, sind die Aufstiegschancen und die Absturzrisiken.
In der künftigen Gerechtigkeitsdebatte sind berufliche Eintrittschancen und Jobsicherheit daher mindestens ebensoviel wert wie eine bestimmte Gehaltshöhe. Unkündbare Beamte könnten nach diesen Gerechtigkeitsnormen durchaus etwas mehr von ihrem Einkommen für die künftige Alterssicherung abzweigen. Ältere Arbeitslose hingegen sollten die Möglichkeit haben, unter bestimmten Bedingungen einen Teil ihres Arbeitslosengeldes befristet als Subvention zu einem neuen Job mitzubringen, um ihre Wiedereintrittschancen zu erhöhen.
Den Schlechtergestellten dürfen Einkommensquellen nicht blockiert werden. Es ist möglicherweise fairer für die Beschäftigten in geringfügigen Arbeitsverhältnissen (610-Mark-Jobs), wenn sie weiterhin nicht in die Sozialversicherung einzahlen müssen. Seitdem für studentische Jobs die Rentenversicherungspflicht eingeführt wurde, ist das Angebot an diesen Stellen zurückgegangen. Dies trifft vor allem mittellose Studenten. Der alte Gedanke einer Umverteilung via Sozialversicherung verkehrte sich so in sein Gegenteil.
Anstatt die Schwarzarbeit von Sozial- und Arbeitslosenhilfeempfängern anzuprangern, könnte man es genausogut begrüßen, daß es den Schlechtergestellten gelingt, mit Hilfe von kleinen Jobs in Privathaushalten ihr „Grundeinkommen“ aufzubessern. „Wenn wir kein Geld ausgeben können, um Güter jenseits des Subsistenzminimums zu erwerben, dann erleiden wir eine Art Statustod, wir erleben eine soziologische Enterbung“, sagt der amerikanische Gerechtigkeitsforscher Michael Walzer. Die Schwarzarbeit ist eine Chance, diesem Statustod zu entrinnen.
Wer argumentiert, durch Lohnsubventionen und Schwarzarbeit entstünden keine zusätzlichen Arbeitsplätze, bewegt sich auf der falschen Ebene. Diese Jobs unterstützen nur die angemessenere Verteilung von Einkommenschancen. Neue Stellen hingegen entstehen durch makroökonomische Prozesse von Angebot und Nachfrage, die mit Subventionen kaum beeinflußt werden können.
Es gibt Anzeichen, daß sich die künftige Gerechtigkeitsdebatte auf die Frage einer ausgeglicheneren Verteilung von Zugangschancen und Absturzrisiken konzentrieren wird. Hierbei geht es auch um die faire Verteilung von Einbußen, um das Eingeständnis eines künftigen Mangels. Deshalb ist das Thema in der Parteipolitik nicht populär. Die heimliche, die gesellschaftliche Gerechtigkeitsdebatte, findet derzeit ohne die Parteien statt. Barbara Dribbusch
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