piwik no script img

Getanzte Textaufgaben

■ Aujourd' hui peut-être: realistisch-ironisches Tanztheater von der französischen Compagnie Maguy Marin bei der 7. Hammoniale

„Wir können die Politik verändern – bloß nicht nur zu fünft.“Maguy Marin und ihre KünstlerkollegInnen machten 1995 mit einem Hungerstreik gegen die Bosnienpolitik der Vereinten Nationen mobil. Die engagierte Choreographin war seinerzeit mit ihrer Produktion Waterzooi zum ersten Mal zu Gast bei der Hammoniale, und erfreulicherweise ist sie es in diesem Jahr wieder.

Die Tochter spanischer Bürgerkriegsflüchtlinge ist mit ihrer Kunst weit entfernt von Agit-Prop, aber sie beobachtet die aktuellen Bewegungen in Politik und Gesellschaft sehr genau. Marin holt sich ihre Einfälle aus dem Leben, das sie umgibt. In ihrer neuesten Produktion Aujourd'hui peut-être (Heute vielleicht) schafft die 46jährige eine Art Back-Stage-Atmosphäre, in der die TänzerInnen auf einer fast leeren Bühne eine Probensituation simulieren. Die teils jazzig-rockigen, teils zeitgenössischen Klänge der Gruppe Volapük korrespondieren mit den Bewegungen und der Sprache der Akteurinnen – wenn die Musiker nicht selbst gerade in die witzig-wirren Spielaktionen verwickelt sind.

Marin reflektiert in ihrer Szenen-Collage nicht nur Kunst und Leben, sondern – so scheint es – vor allem das Künstliche im Leben. Die gesprochenen Texte führen die gespielten Alltagssituationen aufs Amüsanteste ad absurdum: Da werden brisante Ereignisse wie die jüngste Blauhelm-Politik zu mathematischen Textaufgaben verwurstet und auf provokante Weise bagatellisiert. Andererseits werden die unwichtigsten Banalitäten mit einer hochphilosophischen Bedeutung versehen. Mit ihrem unvermeidlichen Humor seziert Marin die Wirklichkeit. Indem sie Sprache und Gestik einander gegenüber stellt, macht sie die Mechanismen gewöhnlicher Kommunikationssituationen durchsichtig.

Seit zwanzig Jahren arbeitet Maguy Marin erfolgreich an einem Theatertanz, der realitätsnäher und alltagsbezogener ist als das klassische Ballett, das sie studiert hat. Ihr Lehrer, der berühmte Tanzmeister Maurice Béjart, erkannte das kreative Talent seiner Tänzerin schon früh und ließ sie erstmalig für sein Ballet du XX siècle choreographieren. Heute steht Marin gewissermaßen für das französische Tanztheater und ist aus der europäischen Tanzszene kaum noch wegzudenken. Das Festival zeigt daher noch zwei weitere Choreographien von Marin: Contrastes und Groosland werden nicht wie Heute vielleicht von der Compagnie Maguy Marin aufgeführt, sondern vom Ballet de l'Opéra national de Lyon, dessen leitende Choreographin Marin bis 1994 war.

Birgit J. Neumann

Di/Mi, 17./18. Juni, 20.00 Uhr, Kampnagel k6

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen