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„Wir liegen konsequent immer daneben“

Jugendforscher im Streit: Klaus Farin hat Arthur Fischer, Richard Münchmeier, Joachim Kersten und Helmut Apel zusammengebracht. Fischer und Münchmeier machten die Shell-Studie, Kersten bildet Polizisten aus, Apel arbeitet bei Emnid.

Jugendforschung wird überall gemacht, doch das Ergebnis der Anstrengungen in den vergangenen 40 Jahren ist eher mager. Klaus Farin sprach darüber in Loccum mit dem Berliner Professor Richard Münchmeier, Arthur Fischer, Geschäftsführer von Psydata, Helmut Apel, Studienleiter bei Emnid und Joachim Kersten, Soziologieprofessor in Baden-Württemberg.

Farin: Zur Vorbereitung dieses Gesprächs habe ich rückwirkend die taz-Ausgaben dieses Jahres auf Meldungen zur Jugendforschung hin durchgesehen. Dabei kam heraus, daß es kaum eine Woche gab, in der nicht ein Unternehmen, ein Institut, eine Landesregierung Ergebnisse einer neuen Jugendstudie präsentierte. Was macht „Jugend“ als Forschungsobjekt eigentlich so attraktiv?

Fischer: Ich habe den Eindruck, daß die Motivation von vielen Jugendstudien, die ja von Erwachsenen für Erwachsene gemacht werden, die ist, sich zu vergewissern, ob man denn auch alles richtig gemacht hat: Wollen die Jugendlichen wirklich genauso werden wie wir? Wollen die unsere Rente zahlen? Wollen die in unsere gesellschaftlichen Positionen hineinrutschen? Das ist natürlich kontraproduktiv, denn wenn Jugendliche das gleiche machen würden wie wir Erwachsenen, gäbe es keinen gesellschaftlichen Fortschritt. Die seit Jahrtausenden vorhandenen Konflikte zwischen den Generationen sind die Haupteinfalltore für gesellschaftliche Innovationen. Die zweite Motivation ist, daß man am Beispiel von Jugend sehr schön gesellschaftliche Grundprobleme diskutieren kann – mit manchmal sehr absurden Folgen.

Den Drang, über Jugend was zu erfahren, ordne ich demgegenüber ganz weit hinten an. Daran haben selbst Auftraggeber von Jugendforschung offenbar kein Interesse, wenn man sieht, wie Politik, Wirtschaft, auch der DGB mit Jugendstudien umgehen. Die benutzen die als Selbstbedienungsladen: Wo ist ein Zahl, wo ist ein Argument, das in meine ohnehin vorhandene Meinung paßt?

Anfang der 80er Jahre gab es mal im Zusammenhang mit den Jugendunruhen in Zürich eine Jugendenquetekommission des Deutschen Bundestages, deren Bericht übrigens sehr progressiv ausfiel, folglich hat er in der praktischen Politik auch nie eine Rolle gespielt. In der parlamentarischen Debatte wurde häufig aus unserer gerade erschienenen 81er Shell-Jugendstudie argumentiert. Ich habe mal einen Studenten darangesetzt, damit er im Rahmen einer Diplomarbeit die Herkunft der Zitate klärt. Es kam mir sehr vieles sehr unvertraut vor. Und da stellte sich heraus: Ein Drittel der „Zitate“ war frei erfunden, ein weiteres Drittel stammte aus früheren Shell-Studien, und nur ein Drittel stammte wirklich aus der aktuellen Shell-Jugendstudie, wobei schon mal in einem Satz das Wort „nicht“ weggelassen wurde, wenn es in die Argumentation nicht reinpaßte, also genau das Gegenteil behauptet wurde. Also das Erkenntnisinteresse der Gesellschaft an dem, was mit Jugend los ist, sieht man von Marketinginteressen ab, ist sehr beschränkt. Und da erwarte ich auch keine Änderungen.

Warum erstellen Sie dann weiterhin eine Studie nach der anderen, wenn Sie wissen, daß Ihre Ergebnisse eigentlich niemanden so richtig interessieren? Pure Arbeitsplatzsicherung?

Fischer: Es sichert meinen Arbeitsplatz, klar. Außerdem habe ich eben die Motivation der Auftraggeber von Jugendforschung beschrieben. Mich persönlich interessiert das sehr. Die Auseinandersetzungen mit den Denkfiguren von Jugendlichen haben zum Beispiel viele meiner Denkfiguren verändert. Und was mir persönlich sehr viel Spaß macht: Solche Jugendstudien eignen sich hervorragend, um Vorurteile in der Öffentlichkeit anzugehen. Die Shell-Jugendstudien gibt es seit über 40 Jahren, sie sind eine renommierte Institution. Wenn ich sage, ich habe die Shell-Jugendstudie gemacht, und mich dann zu einem bestimmten Thema öffentlich äußere, dann will ich mal den sehen, der sich dann noch traut, einem zu widersprechen. Aber für die Auftraggeber ist das ein PR-Instrument, Erkenntnisinteresse, was ist mit der Jugend los, steht kaum dahinter.

Mein Eindruck ist, daß bei vielen Forschern selbst auch kein großes Erkenntnisinteresse dahintersteckt. Anders kann ich es mir nicht erklären, daß a) so viele Studien keinen Erkenntnisgewinn haben und b) erstaunlich viele Jugendforscher ihre Studien bevorzugt am Schreibtisch erarbeiten und Jugendlichen mit Ausnahme des eigenen Nachwuchses aus dem Wege gehen...

Fischer: Also ich bekenne mich zu dem ethnologischen Blick. Die Tatsache, daß ich genau weiß, ich habe keine Ahnung von den Interessen von Jugendlichen, gehöre auch bei größter Strapazierung des Begriffs „Jugend“ mit Sicherheit nicht mehr dazu, diese Haltung zwingt mich dazu, mich Jugendlichen immer zu nähern wie ein Ethnologe einem neuentdeckten Volksstamm auf Neuguinea.

Ethnologen pflegen bisweilen die Objekte ihrer Begierde persönlich aufzusuchen...

Fischer: Mir bringt das nichts, groß Feldforschung zu machen. Das verwirrt mich eher, das kann ich nicht einordnen, da fehlen mir die Bezugspunkte. Ich organisiere das lieber auf andere Art und Weise – wenn Sie so wollen, vom Schreibtisch aus. Ich muß allerdings sicherstellen, daß ich nicht mein Forschungsinteresse bei Jugendlichen abfrage, ein Sündenfall vieler Jugendstudien, der ja auch dazu geführt hat, daß die Jugendforschung mit Recht als die erfolgloseste Disziplin der Sozialwissenschaft gilt, was ihre Prognosekraft betrifft, da liegen wir ja konsequent immer daneben. Das liegt aber daran, daß meist Erwachsene sich was ausdenken und an Jugendlichen in Form von Fragebögen exekutieren. Wir machen es andersherum und lassen zunächst Jugendliche selbst die Themen und Begriffe bearbeiten und übernehmen das dann in die Fragebögen. So, bin ich sicher, ist vernünftige Forschung möglich.

Kersten: In der ersten Shell-Jugendstudie von 1953 war eine Kategorie drin: Wie finden Sie „Heimatfilme“, „Kriegsfilme“, „Südwestfilme“? Die meinten Wildwestfilme. Interessanterweise haben aber einige Jugendliche geantwortet, daß sie Südwestfilme unheimlich gut fänden. Das zweite mich sehr beeindruckende Beispiel von Jugendforschung war in den 80er Jahren eine Jugendforscherin, die sagen wollte, daß für die Halbstarken ihrer Generation Elvis eben wichtiger war als Adorno oder Horkheimer, und sie hatte dazu ein Zitat gefunden über den „rotating pelvis of Elvis“. Pelvis ist natürlich das Becken, aber die vermutlich frauenbewegte Dame hat pelvis mit Penis übersetzt und sich über die rotierende Eichel von Elvis ausgelassen. Das andere Problem deutscher Jugendforschung ist, daß sie in Jugend immer das reingedacht hat, was sie selber gerne mal in ihrer Jugend gewesen wäre. Die Versuchung, die Langeweile, die Soziologie oder Sozialpädagogik verströmen, irgendwie aufzupeppen, indem sie sich mit den Jugendkulturen überidentifizieren, scheint enorm groß. Ich frage mich, ob das nicht der Jugend guttun würde, wenn wir einfach mal aufhören würden, Jugendforschung zu machen, weil wir sowieso zu alt sind und uns keiner mehr glaubt. [Klasse! d.sin, Jahrgang 52]

Münchmeier: Das ist ja eine gängige These: Als Jugendforscher muß man der Jugend möglichst nah sein, weil man sie sonst nicht verstehen kann, weil man sich sonst nicht mit ihr verständigen kann oder wie die Argumente alle lauten. Dahinter steht die Vorstellung, je wortgetreuer oder je authentischer man Jugendliche porträtiert, desto näher ist man an Jugend. Das ist aber ein Trugschluß. Berechtigt daran ist, daß Jugendforschung die Aufgabe hat, nicht auf die Jugend zu gucken aus dem Blickwinkel der Gesellschaft, sondern umgekehrt mit wissenschaftlichen Mitteln Möglichkeiten zu schaffen, daß herauskommt, wie Jugendliche sich in der Gesellschaft und die Gesellschaft sehen. Mit wissenschaftlichen Mitteln heißt, daß es nicht reicht, Zitatcollagen aneinanderzureihen. Das ergibt nicht mehr als Redeschwall. Die Güte wissenschaftlicher Methode hängt nicht davon ab, ob ich solidarisch bin, sondern daß ich sauber wissenschaftlich arbeite. Das ist was ganz anderes.

Noch vor zehn, zwölf Jahren war es selbstverständlich, daß sich Jugend- und Bewegungsforscher jeglicher Art ihre Arbeit als klar parteilich sahen. Das scheint sich gewandelt zu haben?

Kersten: Diese Parteilichkeitsdiskussion, zum Teil auch in den sozialen Bewegungen, das ist ja nur noch peinlich. „Nur Frauen können Mädchen verstehen“ usw. Grundsätzlich: Gerade bei den Daten, die ich nicht verstehe, die mich am meisten verstören, kann ich am meisten lernen.

Münchmeier: Mir wird schwummerig vor der solidarisierenden Jugendforschung, und zwar deshalb, weil diese Jugendforschung gegen ihre Intentionen die Bevormundung junger Leute übernimmt. Unter dem Vorwand, Anwalt für die Jugend zu sein, versetzt sie die Jugend in die Rolle eines Unmündigen, der Fürsprecher braucht.

Distanz und Fremdheitserfahrungen bei der Erforschung von Jugendlichen können sicher befruchtend sein. Aber diese Fremdheitserfahrungen muß man auch machen. Und das gelingt nicht am Schreibtisch. Wer lediglich verschriftlichte Aussagen vor sich hat, dem fehlen zentrale Informationszugänge zum Beispiel über Musik, Mode, Rituale, Gesten usw. Ein Großteil jugendicher Kommunikation läuft heute über den Körper, sprach-los. Man erkennt Schreibtischforschung sehr leicht, wenn sie, wie es häufig geschieht, ihre repräsentative Datenmenge auf einzelne Teilmengen heruntersubtrahiert, um Aussagen über Skinheads, Punks, Hooligans, Heavy-Metal-Fans usw. machen zu können, und dann plötzlich völlig abstruse Ergebnisse produziert, ohne es zu merken, weil sie die Realität dieser Szenen nie erlebt hat.

Fischer: Aber ich käme doch nie auf die Idee, repräsentative Umfragen zu nutzen, um einzelne Szenen zu beschreiben.

Das wird oft so gemacht.

Fischer: Ja, aber es ist falsch.

Aber Ihre Shell-Studie ist doch so selten wie 'ne Trüffel bei Aldi. Die Standards und die höchsten Aufmerksamkeitswerte in den Medien setzen doch so Prozenthubereien, wie sie Emnid und andere Meinungsforscher machen: 33 Prozent aller Jugendlichen in Brandenburg denken rechtsradikal, aber nur 18 Prozent in NRW, zwei Drittel aller Jugendlichen haben einen ausländischen Mitbürger zum Freund, im Westen allerdings doppelt so häufig wie im Osten.

Münchmeier: Das ist Meinungsforschung, deren Zahlen man am besten in der Versenkung verschwinden lassen sollte.

Kersten: Die bedienen aber den Bedarf. Ich denke, das ist so ein Prozeß, wo Forschung, Entsetzenslust der Öffentlichkeit und Verkaufsstrategien der Medien zusammenlaufen. Jugend wird nur entweder als Jugend, die ein Problem hat, oder Jugend, die ein Problem macht, wahrgenommen – entweder als eine gefährliche Jugend oder als eine Jugend, die man bemitleiden kann, weil sie Pickel hat oder nicht an Politik interessiert ist usw., jedenfalls irgend etwas, das sich skandalisieren läßt.

Apel: Klar, das ist unser Geschäft, davon leben wir. Auf allen Ebenen, nicht nur bei Jugendlichen. Aber ich glaube, daß unsere Zahlen eher relativierend als skandalisierend wirken neben den Bildern, die man im Fernsehen sieht. Natürlich bleiben solche quantifizierenden Jugendstudien, wie wir sie machen, auf einem oberflächlichen Level. Ich finde, daß dies in einer Sicht aber sehr wertvoll ist. Würde man das nicht tun, würden irgendwelche Politiker, Journalisten und sonstwer über Jugend schreiben gerade nach dem, was in den Medien en vogue ist, zum Beispiel Love Parade oder solche medienwirksamen Dinge wie Techno- Partys. Ich denke, da ist es im guten Sinne relativierend, durch Repräsentativstudien festzustellen, wie viele Leute sind es eigentlich, die sich damit identifizieren. Ich finde es also sehr wichtig, Repräsentativstudien zu machen, um die Größenverhältnisse einschätzen zu können zum Beispiel auch von denen, die mit Institutionen Probleme haben, die sich politisch engagieren wollen, die sich nicht engagieren wollen usw.

In der Öffentlichkeit verbindet sich Jugendforschung seit einigen Jahren vor allem mit dem Namen Wilhelm Heitmeyer. Wie kommt es eigentlich, daß die Bielefelder Forscher so öffentlichkeitswirksam arbeiten, daß sie sogar ein eigenes Institut bekamen, und im Kollegenkreis so scharf kritisiert werden? Oder ist das zweite die Folge des ersten?

Kersten: Natürlich spielt da auch Neid immer mit hinein. Aber es gibt gute Gründe für die Kritik. Ein zentraler Grund ist, daß denen nie aufgefallen ist, daß die von ihnen erforschten Probleme – Jugendgewalt, Rechtsextremismus – eine geschlechtsspezifische Qualität beinhalten; dann, daß sie zu aktuellen Ereignissen wie Brandanschlägen einfach aus dem Ärmel heraus Stellung nehmen, irgendwas erzählen, einfach ihren theoretischen Ansatz allen Problemlagen und allen Szenen überstülpen, und drittens, daß die Formeln, die sie benutzen, wie „Desintegration“, „Individualisierung“ und so weiter, ein solches Ausmaß an Beliebigkeit angenommen haben, daß sich jeder damit identifizieren kann. Die sind so attraktiv, weil sie so konsensfähig sind, so politisch korrekt, und weil sie ein Jammerbild von Jugend und Marginalisierten herstellen, das konsensfähig ist.

Münchmeier: Oder dieses Begriffspaar „Modernisierungsgewinner“ und „-verlierer“...

Kersten: So ein Blödsinn!

Münchmeier: Aber es ist sehr pfiffig, weil es suggeriert, daß ich die Gesellschaft sehr simpel auseinandersortieren kann. Ein einfacher Blick in die Statistik zeigt, daß dies keineswegs so ist. Das rechtsextremistische Potential rekrutiert sich nicht aus der Gruppe von Leuten, wie sie dort beschrieben sind. Willems hat es sehr sorgfältig nachgewiesen. Das Problem ist, daß seit Jahren weder Daten anderer Forscher noch kritische Anmerkungen und Nachfragen in Bielefeld registriert werden.

Fischer: Die Bielefelder sind einfach von der Empirie her schlecht. Da werden Minimalstandards, was größere Stichproben, Auswertungsverfahren oder die Art und Weise, wie Instrumente konstruiert werden, betrifft, einfach nicht eingehalten.

Kersten: Und das fällt zurück auf uns alle. Man muß sich im Grunde fragen, ob die sozialen Kontrollmechanismen, die wir als Wissenschaftsdisziplin auch haben, hier völlig versagen. Hätten wir eine Zunft mit festgelegten Qualitätsmaßstäben, müßten wir sie rausschmeißen, weil sie die untersten Qualitätsstandards empirischer Forschung nicht erfüllen. Statt dessen kriegen die ein Institut, weil sie in das Scheinfortschrittsprogramm einer Partei passen, die die Gelder verwaltet. Da kann man sich doch nur fragen, ob inzwischen Maßstäbe, nach denen man Parfüms verkauft, bei der Jugendforschung gelten.

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