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■ NormalzeitSodom und Camorra mit menschlichem Antlitz

In einer Torstraßen-Kneipe erzählte mir eine Frau, daß man ihr Haus in Mitte renoviert habe – Strom, Gas und Wasser waren bereits drei Monate abgestellt, da erst bot die Wohnungsbaugesellschaft ihr eine Umsetzwohnung an. Das Sozialamt – sie sei eine Sozialhilfempfängerin und habe zwei Kinder im schulpflichtigen Alter zu ernähren – wollte jedoch die dort höhere Miete nicht akzeptieren. Schließlich bot ein Freund ihr eine vorübergehende Unterkunft bei sich an. Unterdessen klauten die Renovierungshandwerker ihr einige Sachen aus der Wohnung. Drei weitere Freunde halfen ihr schließlich, ihre letzten Habseligkeiten aus der Wohnung zu schaffen.

Das Sozialamt wollte anschließend nicht einmal die 300 Mark Umzugshilfe rausrücken. Und sowieso sei das eine ganz üble Mafia – selbst fürs Notwendigste reiche die Unterstützung nicht mehr hin noch her. Seit zwei Monaten würde sie nebenbei als Prostituierte arbeiten. Es stellte sich dann heraus, daß sie ausgerechnet bei meiner „Mafia“ – meinen Ober- Hausmietern in Mitte (die mir mal einen VG-Wort-Scheck geklaut hatten) Anschaffen ging.

Von mir wollte sie übrigens für eine gründliche Einsicht in ihre Korrespondenz – mit dem mafiösen Sozialamt – knapp die Hälfte meines taz-Honorars haben: „Mindestens! Das ist eine ganz scharfe Story!“ Ich schwankte und bat um Bedenkzeit.

Sie gab mir ihre Funktelefon- Nummer und ihren „Künstlernamen“. Die Hauptstadt-Presse druckt jetzt leider fast täglich Mafia-Geschichten weg. Den Vogel schoß gerade die B.Z. ab: „Russen-Mafia? Schülerin mit Säbel geköpft!“ Und das gleich auch noch auf der Händlerschürze.

Würden eure Leute so etwas tun? fragte ich anderntags sofort Irina und Lena, denen ich das absolut nicht zutraute. „Nein, ausgeschlossen, so etwas Verwerfliches, das kann nur der Chor der Wodka-Kulaken gewesen sein“, meinten sie, „und der tourt gerade am Balalaika-See.“ (Diese deutsche Bezeichnung für den größten See Sibiriens hat sich auch in Rußland inzwischen durchgesetzt, seitdem Caroline Reiber sie einmal in einer TV- Quizsendung für Spätheimkehrer als richtige Antwort „durchgehen“ ließ.)

Aber ich wollte eigentlich auf was anderes hinaus. Die beiden Russinnen kennen sich in dieser Scene etwas aus: Irina ist eine Diplomökonomin aus Moskau und Lena eine Lebensmittelverkäuferin aus Odessa, sie hat noch eine kleine Tochter, die bei den Eltern untergebracht ist. In einigen Jahren will sie sie hierher holen. Beide Frauen arbeiten in einem Neuköllner Bordell, Irina sogar in zwei Schichten. Lena hatte mir zuvor einmal erklärt, warum: „Sie hat alle Papiere, Aufenthaltsgenehmigung, Fake-Ehe, Ausreise und so weiter von denen“ (dabei wies sie mit dem Kopf vage in Richtung Rußland und Neukölln) „organisieren lassen. Jetzt hat sie ganz viel Schulden. Ich habe es dagegen alleine hierher geschafft. Ganz alleine! Aber es ist auch nicht einfach. Laufend muß ich Geld nach Hause schicken und außerdem meinem Kind Anziehsachen und Spielzeug. Allein das Paket, neun Kilo, kostet jedesmal 150 Mark Porto. Meine Mafia ist das Kind!“ seufzte sie lächelnd. – Und hatte damit kühn die drohende Durchmafiarmierung des gesamten Global Village geballt.

In diesem Zusammenhang sei nur noch einmal an den vollen Wortlaut der ursprünglich italienischen Abkürzung „Mafia“ erinnert: Mutter-Abwärtsorientierter Finanz-Initiativ-Ausschuß. Helmut Höge

wird fortgesetzt

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