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■ Filmstarts à la carteAnarchie wie nie

Sind Kinder die besseren Anarchisten? Beim Ansehen von Louis Malles „Zazie dans le Métro“ möchte man es fast glauben. Die rotzfreche und etwas frühreife Göre, die keine Autoritäten anerkennt, stürzt Paris nicht nur in ein vergnügliches Chaos, sie wirft auch noch mit Bomben. Und das alles nur, weil die Metro bestreikt wird.

Gemeinhin sind Kinder im Kinofilm ein Problem: Weil es den erwachsenen Drehbuchautoren und Regisseuren an Einfühlungsvermögen in kindliche Erfahrungswelten mangelt, stellt eine realistisch wirkende Jugend auf der Leinwand eher die Ausnahme dar. Statt dessen bekommt man als Zuschauer eine Vielzahl unerträglich kleiner Klugscheißer präsentiert, denen man in jeder Sekunde die Pest an den Hals wünscht.

Malle, dem in diesem Monat eine kleine Filmreihe im Babylon- Mitte gewidmet ist, und sein Co- Autor Jean-Paul Rappeneau umgehen in ihrer Adaption des Romans von Raymond Queneau das Problem, indem sie auf jeden Realismusanspruch verzichten. Technische Tricks und absurde Einfälle brechen die innerfilmische Realität: Verfolgungsjagden wirken wie mit falscher Geschwindigkeit gespielte Stummfilme, Stoptricks verändern die Positionen der Personen innerhalb einer Einstellung, und die Zerstörungen erinnern an das Motto „anything goes“ der Warner-Cartoons.

Filmhistorische Zitate, In- Jokes und Verfremdungen: Malle verwendet die „Sprache“ der Nouvelle Vague und parodiert die „Bewegung“ gleichermaßen. Scheinen in Truffauts Paris-Filmen stets alle Straßen zum Eiffelturm zu führen, so landen die Protagonisten in „Zazie“ ständig in der Nähe eines berühmten Bauwerkes, das wahlweise als „Madeleine“ oder als „Sainte-Chapelle“ vorgestellt wird und natürlich keins von beiden ist.

10.7 und 12.7 im Babylon-Mitte

Da seine Filme eher Leckerbissen für Connaisseure als Fast food für die Masse darstellen, ist der Name des französischen Regisseurs Jacques Becker heute fast ein wenig in Vergessenheit geraten. Ehe Becker eigene Filme realisieren konnte, arbeitete er lange Jahre als Assistent Jean Renoirs, und wie in den Filmen seines Mentors waren auch bei Becker die Charaktere stets wichtiger als der Plot.

Sein wohl bekanntester Film „Casque d'Or“ (Goldhelm) führt uns ins Milieu der Pariser Unterwelt zur Zeit der Belle Époque. Erzählt wird von Verrat, von wahrer Freundschaft und von der Liebe der Prostituierten Marie (Simone Signoret) zum Tischler Manda (Serge Reggiani). Becker inszeniert eine Liebe, die sich allein durch Blicke konstituiert: Als sich Marie und Manda in einem Ausflugslokal zum ersten Mal sehen, tanzt sie gerade mit ihrem Zuhälter. Doch bei keiner der Drehungen ihres Tanzes läßt sie Manda aus den Augen, der seinerseits die Blicke nicht von ihr wenden kann. Der erste Kuß, die erste gemeinsame Nacht, die Trennung: Weil nahezu wortlos, erscheint uns ihre Liebe um so intensiver. Während Becker die entscheidenden Wendungen der Geschichte oftmals elliptisch erzählt, nimmt sich der Film viel Zeit für Szenen, die die Personen oder das Milieu charakterisieren.

Jacques Becker war der Filmer der vermeintlich unwichtigen Dinge: So brachte er zwar den Plot keinen Millimeter voran, führte seine Filme jedoch zu großer Wahrhaftigkeit und Schönheit.

15.7. im Zeughaus-Kino

Lars Penning

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