: Die Tour beruhigt sich
Die Zeit der Raserei und der Stürze bei der Tour de France ist vorbei, heute geht es in die Pyrenäen ■ Von Matti Lieske
Berlin (taz) – „Der wahre Champion bei der Tour stürzt nicht, wird nicht krank und hat keine Pannen.“ Wenn dieser Satz von Giancarlo Ferretti, Direktor des italienischen Teams MG, stimmt, bleiben nicht mehr viele Kandidaten für den Sieg bei der diesjährigen Tour de France übrig.
Die meisten Fahrer, die vorher als Kandidaten für den Gewinn der härtesten aller Rad-Rundfahrten genannt wurden, haben in der ersten Woche auf ungute Weise die Beschaffenheit französischer Landstraßen testen dürfen. Einige mehrfach und mit derart nachhaltigen Auswirkungen, daß sie längst wieder zu Hause sitzen und sich die heutige erste Bergetappe, die hinauf in die Pyrenäen führt, gemütlich im Fernsehen anschauen können: die beiden Schweizer Alex Zülle und Tony Rominger; der Giro d'Italia-Sieger dieses Jahres, Ivan Gotti; sein Vorgänger von 1994, Jewgeni Berzin, und seit Samstag auch der Sprinter Mario Cipollini, Träger des gelben Trikots auf den ersten beiden Etappen. Ebenfalls gestürzt, aber noch dabei sind Leute wie Marco Pantani, der eigentlich immer anwesend ist, wenn es kracht, Luc Leblanc, Richard Virenque, Bjarne Riis, Jens Heppner, Johan Museeuw und viele andere Fahrer mit weniger bekannten Namen.
Die Flut von Stürzen bei der 84. Tour bereitet den Veranstaltern gewaltige Sorgen, und sie haben bereits angekündigt, die Zahl der Starter im nächsten Jahr auf 180 zu reduzieren. Zudem haben sie am Freitag „ein Exempel statuiert“, wie es Erik Zabel nennt, um die gefährlichen Rangeleien bei den Massensprints einigermaßen einzudämmen. Zwar überquerte Zabel in Marennes als erster die Ziellinie, wurde aber später disqualifiziert, weil er sich mit einem Schulter-Kopf-Rempler die Bahn auf der Zielgeraden freigeschaufelt hatte. Am Ende der 7. Etappe in Bordeaux, nach Paris die zweitwichtigste Ankunft für die Sprinter, hielt sich der Telekom-Fahrer schadlos und siegte erneut, diesmal blitzsauber und unanfechtbar.
Es waren jedoch nicht nur die Sprints, die für Gefahr sorgten. Diese lauerte überall, obwohl das Durchschnittstempo kaum höher war als in den vergangenen Jahren. Da hatte beispielsweise Miguel Induráin stets mit der Taktik Erfolg gehabt, wohlbehütet von seinen treuen Mannschaftskollegen sehr weit vorn im Feld zu fahren. Auch das bot diesmal keine Sicherheit. „Die Stürze finden vorn statt und auf den letzten Kilometern“, hat der designierte Induráin-Nachfolger Abraham Olano vom Banesto- Team beobachtet, „alle wollen die Etappe mitentscheiden, keiner will zurückbleiben.“
Erik Zabel sieht die „Neustrukturierung des Radsports“ als Grund für diese Entwicklung. Während Giro und Spanien- Rundfahrt stetig an Renomée verlieren, wird die Tour immer wichtiger, und wer daran teilnimmt, ist entschlossen, auch etwas zu erreichen. Hinzu kommt, daß in diesem Jahr das Mannschaftszeitfahren in der ersten Woche ebenso fehlte wie ein Einzelzeitfahren. Solche Etappen sorgten sonst früh für große Rückstände zahlreicher Fahrer zur Spitze. Nicht so bei der Tour 97, wo die Zeitabstände so gering waren, daß sich mindestens 50 Fahrer Hoffnung machen konnten, das begehrte gelbe Trikot zu ergattern. Entsprechend wild wurde gefahren. „Alle haben noch Kraft, sind frisch und halten voll rein“, hat Tour-Debütant Torsten Schmidt vom italienischen Roslotto-Team beobachtet. „Alle wollen nach vorn, alle sind im selben Paket, es flattern zu viele Nerven“, meint auch Manolo Saiz, Direktor der Once-Mannschaft. „Ein Zeitfahren zu diesem Zeitpunkt würde viele Dinge an ihren Platz rücken.“
Das Zeitfahren steht jedoch erst am Freitag in St. Etienne an, so daß die Aufgabe, die Dinge zurechtzurücken, ab heute den Pyrenäen zufällt. „Dann ist endlich Schluß mit den wahnsinningen Stürzen“, freut sich Udo Bölts. Anderen ist beim Gedanken an die Berge nicht ganz so wohl, zumal schlechtes Wetter angekündigt ist. Vor allem der Anstieg auf 2.240 Meter nach Andorra am Dienstag wird die Frage beantworten, ob Olano tatsächlich schon soweit ist, in die Radspuren des großen Miguel zu fahren, und auch jene, ob Team Telekom wirklich noch einmal auf den Dänen Bjarne Riis setzt oder doch schon auf die Zukunft in Gestalt von Jan Ullrich. Immerhin hat Riis wegen seines Sturzes schon 58 Sekunden Rückstand auf Olano. Und, man erinnere sich an Ferretti, der wahre Champion stürzt nicht.
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