"Wenn du erlaubst, Jürgen ..."

■ Männer, die uns keinen Bären aufbinden: Die ARD-Experten Dr. Jürgen Emig und Herr Herbert Watterott reden täglich stundenlang - und längst nicht nur über die Tour de France

Herbert Watterott (55, WDR) und Dr. Jürgen Emig (51, HR) reportieren die Tour de France für die ARD. Watterott ist seit 32 Jahren dabei, Emig kaum weniger lang. Wir blenden uns ein.

Emig: ... ja, hier am Fuße der Pyrenäen, wo ja die Tour de France in dem malerischen Dörfchen Belleriche zum 48. Mal Station macht, nein, natürlich macht sie nicht Station, sondern Belleriche ist ja nur eines der vielen ungezählten Dörfer, denen die Ehre zuteil ...

Watterott: ... ja Jürgen, aber wenn du erlaubst, doch eines mit einem geradezu besonderen Mythos, denn es war im Jahr 1953, als hier in Belleriche die Tante des späteren Zwölftplazierten Fréderic Soutelmine, die damals 89jährige Henriette Cloucheau, vor ihrer Gastwirtschaft, die ja heute immer noch in Betrieb ist, ihrem Neffen Fréderic vor dem Aufstieg ein Stück Butterkuchen mit auf den Weg gab ...

Emig: ... mit den unvergessenen überlieferten Worten „gib' deinem Kameraden Luc auch etwas ab“ ...

Watterott: ... ja, Jürgen, was er ja dann auch tat, ausgerechnet auf der rasenden Abfahrt von Pludeforce nach St. Galoche, woraufhin beide in einer Kurve dramatisch stürzten, aber blutüberströmt die Fahrt wiederaufnahmen ...

Emig: ... allerdings mit einem riesigen Rückstand auf die Spitze des Feldes, den sie dann bis zum Ende der Tour nicht wieder wettmachen konnten. Und seitdem ist es ungeschriebenes Gesetz im Peloton, daß vor dem Anstieg auf den Tourmalet kein Kuchen gegessen werden darf ...

Watterott: ... und seitdem trägt dieses Teilstück auch den Namen „l'Étappe gateau fatal“.

Emig: Obwohl ich nicht glaube, daß allen Fahrern, die sich heute hier vor dem phantastischen Panorama der gewaltigen Pyrenäengipfel und -schluchten mit ihrer großartigen ursprünglichen Flora und Fauna...

Watterott: ... ja Jürgen, wenn du erlaubst, hier in der Gegend gibt es ja sogar noch wildlebende Bären ...

Emig: ... allerdings Herbert, aber ich glaube doch, daß die sich heute hier nicht zeigen, bei diesem nebligen Wetter dürften sie es wohl vorziehen, in ihren warmen Höhlen zu bleiben ...

Watterott: ... es ist ja auch zu bezweifeln, daß diese Tiere sich überhaupt für den Radrennsport begeistern ...

Emig: ... nein, das tun sie wohl nicht. Ganz im Gegenteil. Es gibt ja sogar die Geschichte von einer Tour-de-France-Etappe im Jahr 1923, die hier ganz in der Nähe am Col Bracusse vorbeführte ...

Watterott: ... wenn du erlaubst, Jürgen, ich glaube, das war 1924, als Charles Petrusse 21 Tage das Maillot jaune trug und kurz vor Paris mit einem Reifenschaden – er war 35 Kilometer vor dem Ziel über eine Astwurzel gefahren, und es war kein Ersatzreifen aufzutreiben ...

Emig: ... so etwas wäre natürlich heute undenkbar. Ja, ich glaube, du hast recht Herbert, es muß 1924 gewesen sein ...

Watterott: ... und Petrusse wurde dann um zwölf Sekunden vom Belgier Grandeur besiegt ...

Emig: ... richtig, 1924 war's, da also soll hier am Col Bracusse ein stattlicher Braunbär auf dem Paß eine halbe Stunde lang das komplette Peloton gestoppt haben. Er hat einfach auf der Straße gesessen und keinen vorbeigelassen. Die hatten natürlich alle Angst, und erst nach einer ganzen Weile ist es dann einem Beamten der Gendarmerie gelungen, den Bär aus dem Weg zu schaffen ...

Watterott: ... wenn du erlaubst, Jürgen, aber das ist schon etwas harmlos ausgedrückt. Der Gendarm, Pierre Calcave war sein Name, hat das Tier mit seiner Dienstwaffe erschossen.

Emig: Ja, so rauh waren damals die Sitten. Heute wäre so etwas ntürlich völlig undenkbar. Jedenfalls wird seitdem diese Etappe, die den schauerlichen Namen „l'Étappe de l'ours saignant“ erhielt, nicht mehr ins Programm der Tour genommen ...

Watterott: ... wenn du erlaubst, Jürgen, aber jetzt sehe ich gerade, daß die Fahrer im geschlossenen Feld das malerische Örtchen Darlonce in gemächlicher Fahrt durchradeln ...

Emig: ... ein Örtchen, dessen Panorama dominiert wird von einem entzückenden Schlößchen, in dem seinerzeit schon Louis Quartorze mit einigen seiner ungezählten Mätressen Station zu machen pflegte. Ja, hier hat sich seit Ludwig dem 14. doch einiges getan, die Straßen sind asphaltiert ...

Watterott: ... obwohl, Jürgen, wenn du erlaubst, elektrischen Strom gibt es hier auch erst seit 1957, das muß man sich einmal vorstellen ...

Emig: ... allerdings Herbert, aber um noch kurz auf den Sonnenkönig zurückzukommen, der nach einem seiner Aufenthalte hier in Darlonce etwas ganz Verrücktes beschlossen hat. Er ließ dort einen Wald mit kenianischen Geröllkiefern anpflanzen. Ja, und der steht noch heute dort, weswegen diese Etappe auch „l'Étappe des bois africains“ genannt wird.

Watterott: Tatsächlich, Jürgen? Das war mir neu.

Emig: Aber nun zu den Fahrern, die jetzt langsam den Aufstieg beginnen ... Protokoll: Fritz Eckenga